piwik no script img

Zwischen Neorealismus und Kinomärchen

■ Hymne auf den Mut von Straßenkindern: Die kleine Verkäuferin der Sonne

Das 3001 Kino wagt diese Woche ein ganz besonderes Experiment: eine Zweiteilung der „besten Kinozeit“ ab 20 Uhr. Statt einer Hauptvorstellung laufen nun mit dem 45 Minuten langen Die kleine Verkäuferin der Sonne und dem einstündigen Dynamo Kiew, über den auf diesen Seiten bereits einiges nachzulesen war, um 19.45 Uhr und um 21 Uhr zwei kürzere, aber deshalb nicht weniger sehenswerte Filme zum verringerten Eintrittspreis.

Die kleine Verkäuferin der Sonne hatte eigentlich der zweite Teil einer geplanten Trilogie werden sollen, die der senegalesische Filmemacher Djibril Diop Mambéty „kleinen Leuten“ widmen wollte. Mit Le Franc hatte Mambéty 1995 den slapstickreichen ersten Teil der Trilogie vorgelegt. Darin stolpert ein Musiker durch den Senegal und dokumentiert dabei wie im Vorübergehen die Zerrissenheit der Gesellschaft. Wie der Nachfolgefilm des 1945 geborenen Mambéty und sämtliche Filme, die er seit 1965 gedreht hat, war auch dieser ausschließlich mit LaiendarstellerInnen besetzt worden. Mit einer unglaublichen Geduld verstand es Mambéty stets, aus seinen SchauspielerInnen außergewöhnliche Menschen zu machen.

In Die kleine Verkäuferin der Sonne arbeitete Mambéty erstmalig mit Kindern, auch aus ihnen hat er Bemerkenswertes hervorgeholt. Der Film wurde schließlich sein Vermächtnis. Er starb 1998 während der Postproduktion in Paris an Lungenkrebs, die Fertigstellung übernahmen Freunde und sein Bruder, der Musiker Wasis Diop. Freigegeben ist Die kleine Verkäuferin ab 6 Jahren, da er aber nur untertitelt vorliegt, ist ein Besuch mit Grundschulkindern wohl nicht zu empfehlen, auch wenn das Lesen der knapp gehaltenen Dialoge wegen relativ einfach ist.

Die kleine Verkäuferin ist die elfjährige Sili, die, um ihre blinde Großmutter zu unterstützen, in Dakar Arbeit sucht. Zwar ist sie einer Behinderung wegen auf Krücken angewiesen, dank ihrer Beharrlichkeit gelingt es ihr jedoch, noch dazu als einziges Mädchen in diesem Geschäft, als Straßenverkäuferin der Zeitung Le Soleil (Die Sonne) angestellt zu werden. Ihr Credo: Alles was Jungs können, können Mädchen auch. Anderer Meinung sind da die Zeitungen verkaufenden Jungs, die sie immer wieder schikanieren, zu Boden schubsen oder ihr die Krücken wegnehmen. Doch Sili gibt nicht auf, findet sogar einen Freund, der ihr immer wieder hilft, und andere Mädchen auf den Straßen der Hauptstadt, mit denen sie tanzt. Und das Bestechendste ist wohl ihr Lachen, das ihr trotz der Härten ihres Lebens nie vergeht.

Ohne zu romantisieren hat Mambéty mit Die kleine Verkäuferin der Sonne auch ein Kinomärchen im Milieu der Straßenkinder geschrieben. So kann Sili sogar die Herzen von Polizisten erweichen und erwirkt die Freilassung einer des Diebstahls verdächtigten Frau, die im Gefängnis den Verstand verloren hat.

Orientiert hat sich Mambéty mit Die kleine Verkäuferin der Sonne an den italienischen Neorealisten, manches darin erinnert an Vittorio de Sicas Fahrraddiebe. Doch der 1999 fertiggestellte Film hat genug originäre Einfälle, um kein blanker Abklatsch der italienischen Vorbilder zu sein. Mambéty tauchte das Dakar der Gegenwart in derart überdeutliche Farben, nahm der Stadt ihre Hektik durch mitunter fast menschenleere Straßen, dass sich zugleich ein derealisierender Effekt einstellt.

Mitleid und Betulichkeit waren Mambétys Sache nicht, seine „Hymne an den Mut der Straßenkinder“, wie er selbst es nannte, erzählt eher lakonisch eine Geschichte, die mit dem Filmende nicht vorbei ist. Zu dem Glaubenssatz des Realismus, „So ist es“, gesellt sich in Die kleine Verkäuferin der Sonne immer auch ein „Es könnte auch so oder anders sein“.

Christiane Müller-Lobeck

tägl. ab Do, 19.45 Uhr, 3001 (Dynamo Kiew: 21 Uhr)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen