: „Der Mai ist zum Sterben ein guter Monat“
Einmal DDR-Autor, immer DDR-Autor: Bei der Beerdigung des Schriftstellers, Hausbesetzers und Grenzgängers Klaus Schlesinger trafen sich gestern auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte zahlreiche seiner ehemaligen Kollegen. Der Autor wurde als Nachfolger von Alfred Döblin gelobt
von PLUTONIA PLARRE
Die Hände auf einen Stock gestützt, sitzt der greise Schriftsteller Stefan Heym leicht vorgebeugt auf einer Friedhofsbank und lässt seinen Blick über die Trauergemeinde schweifen. Allen Unkenrufen und Nachrufen zum Trotz, die schon längst in den Schubladen der Schreibstuben lagern, hat Heym seine Ostschriftstellerkollegen bislang alle überlebt: Heiner Müller ist 1995 im Alter von 66 Jahren gestorben, Jurek Becker war noch nicht einmal 60, als er 1997 folgte.
Gestern wurde wieder einer der Ihren zu Grabe getragen: der bekannte Autor zahlreicher Bücher und Reportagen über das Leben in Ost- und Westberlin, der Grenzgänger, Hausbesetzer und Kettenraucher, Klaus Schlesinger. Am 11. Mai war er im Alter von 64 Jahren an Leukämie gestorben.
„Klaus hat gesagt: Der Mai ist zum Sterben ein guter Monat. Da kann man hinterher schön feiern“, leitete Kurt Bartsch in der Kapelle des Dorotheenstädtischen Friedhofs gestern die Reden bei der Trauerfeier ein. Bartsch gehörte mit Schlesinger zum Kreis von acht Autoren, die 1979 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen wurden, weil sie die kulturpolitische Praxis der DDR kritisiert und sich mit Stefan Heym solidarisiert hatten.
Die wohl schönste Ansprache auf den toten Weggefährten hielt Adolf Endler, der auch zu den aus dem Verband ausgeschlossenen Schriftstellern gehört hatte. „Einmal DDR-Autor, immer DDR-Autor“, beschrieb der rüstige 70-Jährige das Dilemma, von dem Klaus Schlesinger und viele andere Schriftstellerkollegen seiner Zunft betroffen waren und immer noch sind.
Schlesinger habe Ideale im Kopf gehabt, die mit der Realität in der DDR im Widerstreit gelegen hätten, aber deshalb sei man noch lange kein DDR-Autor. Die Bezeichnung „Berlinischer Autor“ treffe es viel besser. Schlesinger habe seine eigenen Visionen vom Berlin der Nachkriegszeit gehabt. Mit seinen Bildern habe er fortgesetzt, was Alfred Döblin mit „Alexanderplatz“ begonnen habe. Schlesinger habe seine Geschichten vor allem an Straßennamen geknüpft: Dunckerstraße, Rykestraße, Dimitroffstraße, die zuvor und heute wieder Danziger Straße heißt.
Oder die Geschichte der Potsdamer Straße in Westberlin, „wo sich Schlesinger uns als kampfbereiter Hausbesetzer präsentiert hat“. Was Schlesinger bei den Hausbesetzern gelernt habe, so Endler, habe er ihm im Wende-Leipzig anschaulich vorgemacht. „Unangenehm berührt von den nationalistischen Tönen und den Spaziergängerdemonstrationen hat er uns gezeigt, wie die Hausbesetzer in der Potsdamer Straße demonstrierten: Die Arme angewinkelt und untergehakt, und dann ging’s los.“ Bei den wiedervereinigungswilligen Leipziger Demonstranten habe Schlesinger allerdings keine Forderungen erkennen können, für die es sich gelohnt hätte loszustürmen.
Mit Musik von Johann Sebastian Bach, Michel Petrucciani und einem Trompetensolo wurde Schlesinger zu Grabe getragen, begleitet von über 200 Trauergästen aus Ost- und Westberlin, aber auch dem In- und Ausland. Auf seinem letzten Weg passierte er noch einmal eine Grenze: die vom Dorotheenstädtischen Friedhof zum Französischen Friedhof. Dort wurde Schlesinger zur letzten Ruhe gebettet. Wenige 100 Meter vom Grab von Bertolt Brecht entfernt, der auf der anderen Seite der Friedhofsmauer liegt. Wie der es mit dem Tod gehalten hatte, war kurz zuvor in der Kapelle referiert worden: „Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité aufwachte gegen morgen zu und eine Amsel hörte, wusste ich es ist besser. Schon seit geraumer Zeit hatte ich keine Todesfurcht mehr, da ja nichts mir fehlen kann, vorausgesetzt, ich selber fehle . . .“
Stefan Heym, der kürzlich seinen 88. Geburtstag feierte, warf seinem toten Kollegen ein wenig Erde nach, schüttelte ein paar Hände und stieg in den Sportwagen seiner jungen Frau.
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