: Geld oder Solidarität
aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER
Kommissar Michel Barnier, Gastgeber des zweiten Brüsseler Forums über die Zukunft der EU-Strukturpolitik, gab das Motto vor: „Auch wenn es idealistisch scheinen mag: Wir müssen zunächst über Inhalte und erst danach über Geld reden.“
Mehr als 1.500 Delegierte aus allen Regionen der alten und der künftigen, erweiterten Union gaben sich am Montag und Dienstag in Brüssel redlich Mühe, diesem Motto zu folgen. Sehr erfolgreich waren sie nicht. Zwar hielten sich die meisten Redner mit Zahlenspielen zurück, aber ihren Beiträgen war anzumerken, dass sie den Taschenrechner im Kopf nicht ausgeschaltet hatten.
Das ist verständlich, denn abhängig davon, wie die Strukturförderung in der EU nach 2006 geregelt wird, können einzelne Länder eine Menge Geld gewinnen oder verlieren. Schließlich macht dieser Bereich derzeit nach dem Agrarhaushalt den größten Posten im EU-Budget aus – in der laufenden finanziellen Vorausplanung bis 2006 sind für die EU-15 195 Milliarden Euro vorgesehen. Die Summen für die Kandidatenländer sind dagegen mit 40 Milliarden Euro vergleichsweise bescheiden.
Nach Berechnungen der Kommission wird sich die Schere zwischen armen und reichen Regionen in der EU nach der Erweiterung dramatisch öffnen. Bleiben die jetzigen Kriterien für die Förderung bestehen, erhalten in einem Europa der 27 Mitglieder 30 Prozent der Bevölkerung Mittel aus dem Kohäsionsfonds (für Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 90 Prozent des EU-Durchschnitts). Bisher waren es 15 Prozent. Die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung werden dann in Regionen leben, wo jeder durchschnittlich nur 31 Prozent des EU-Mittels verdient. Heute leben sie im Schnitt von immerhin 61 Prozent des EU-Durchschnitts.
Heftigen Streit gibt es auch darüber, ob die neuen Länder nach ihrem Beitritt überhaupt in der Lage sein werden, die Fördermittel sinnvoll einzusetzen. Für Petr Lachnit, Tschechiens Minister für Regionalentwicklung, ist diese Frage aber eher eine rhetorische. Sein Land habe die öffentliche Verwaltung reformiert und ein neues Gesetz über Finanzkontrolle verabschiedet. Nach dem Beitritt 2004 werde Tschechien bis 2006 die vorgeschlagene Obergrenze von 4 Prozent seines Bruttosozialprodukts für Strukturhilfen akzeptieren – länger aber ganz sicher nicht.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Regionalkommissar Barnier unter den möglichen Zukunftsszenarien für die Regionalpolitik einen Favoriten hat: Er möchte die Töpfe im heutigen Umfang erhalten, die Förderung nach Osten verlagern und für die jetzigen Empfängerländer wie etwa Spanien großzügige Übergangsfristen garantieren.
„Wir meinen, dass die neuen Staaten schon zum Zeitpunkt ihres Beitritts in den Genuss der Kohäsionspolitik kommen müssen. Aber die Probleme der alten Empfängerländer verschwinden doch dadurch nicht“, beschwor denn auch der spanische Finanzminister Cristóbal Montoro Romero in Brüssel sein Publikum. Diese Meinung teilt Regionalkommissar Barnier. Da sich vor allem die Deutschen dafür einsetzen, die Brüsseler Töpfe zu verkleinern und sich künftig auf einen Solidaritätstransfer zwischen reichen und armen Ländern zu beschränken, erinnerte er daran, dass nicht nur Spanien Federn lassen muss, wenn nach der Erweiterung die derzeitigen Berechnungsgrundlagen beibehalten werden: Den ostdeutschen Ländern, die in der laufenden Finanzperiode 20 Milliarden Euro erhalten, würde der Geldhahn von einem Tag auf den anderen zugedreht. Aber auch Süditalien und neue relativ wohlhabende Mitglieder wie Slowenien könnten ihre Hoffnungen auf Strukturhilfen aus Brüssel begraben. Und so heißt es dann in einem Papier des EU-Beauftragten von Sachsen-Anhalt, Werner Ballhausen, eindeutig: „Die EU-Erweiterung darf nicht auf Kosten der ärmsten Regionen der heutigen EU finanziert werden.“
In öffentlichen Auftritten erinnert Kommissar Barnier unermüdlich daran, dass viele EU-Bürger Europa nur noch in Euro, Cent, Agrarmarktordnungen und komplizierten Direktiven aus Brüssel erleben werden, wenn dieses Instrument beschnitten wird. Es sei der einzige Hebel, um die sozialen Bedingungen in der Union schrittweise anzugleichen. Wer es abschaffen wolle, reduziere Europa auf eine große Freihandelszone.
Die Frage nach der Zukunft der Regionalförderung mündet also in einen größeren Zusammenhang. In der von Barnier gewünschten Form des gemeinsamen Nachdenkens ohne Taschenrechner gehört sie in die Post-Nizza-Debatte. Wohin steuert Europa? Auf welcher Ebene wird was entschieden? Wie viel agrarpolitischer Ballast kann über Bord? Und welcher finanzielle Gestaltungsspielraum für Strukturförderung wird dadurch frei? Hinter den Kulissen aber hat das Geschacher ums Geld längst begonnen. Gerade die Deutschen, die eine europäische Grundsatzdebatte fordern, tippen gleichzeitig besonders eifrig auf ihren Taschenrechnern.
„Das Wort Solidarität“, erinnerte Polens Premier Jerzy Buzek gestern, „hat bei uns zu Hause einen guten Klang.“ An die gelegentlich schrillen Töne im EU-Ministerrat wird er sich wohl erst noch gewöhnen müssen.
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