: Stadtrundfahrt zur Synagoge
Mit sechs Nazis und sechzig Journalisten durch Berlin: Beim Theatertreffen stellte Christoph Schlingensief sein Hamlet-Projekt in der Hauptstadt vor – Tumulte bei der Premiere in der Volksbühne und stramme Ausstiegsbekenntnisse rechter Szenegrößen inklusive. Eine Busfahrt voller Merkwürdigkeiten
von VOLKER WEIDERMANN
„Habt ihr noch genug Pralinen?“ Christoph Schlingensief reicht seinen neuen Freunden ein frisches Tellerchen mit Konfekt. Torsten Lemmer, Rechtsrockproduzent und Gründer von „Rock Nord“, des weltweit größten Magazins für rechte Musik, nimmt gern noch eine Praline. Rezzo Schlauch hat sie eigens in den Sitzungssaal der FDP-Fraktion im Reichstag bringen lassen.
Der Fraktionschef der Grünen hatte uns zu einer Besichtigung eingeladen: Wir – das sind Christoph Schlingensief, sechs Nazis – oder Exnazis? – und etwa sechzig Journalisten und Kamerateams, auf Bustour durch Berlin. Am Abend zuvor hatte Schlingensief sein Züricher Hamlet-Projekt mit Naziaussteigern im Rahmen des Berliner Theatertreffens an der Volksbühne aufgeführt. Die Skinheadband „Body Checks“ hatte auf der Bühne ihr „Deutschlandlied“ gesungen, und es war zu Tumulten gekommen; Beschimpfungen, von der Bühne herunter, auf die Bühne hinauf. „Ich find das toll. Seit Clockwork Orange hat es so etwas an der Volksbühne nicht mehr gegeben“, sagt Schlingensief später. Danach wird diskutiert bis um halb zwei. Ständig ist von Anerkennung die Rede, von Integration, von Gesprächsbrücken. Es ist grotesk. Christoph Schlingensief hat sein Randgruppentheater direkt von Behinderten über Asylbewerber auf Nazis übertragen. Hamlet-Darsteller Sebastian Rudolph, der in taz-Kolumnen die Proben begleitet hatte, spricht immer wieder von „Verstehen“, von der Sehnsucht und der Einsamkeit der (Ex)-Nazis und wie nett diese Menschen eigentlich seien. Und dass sich die extreme Linke und die extreme Rechte am Ende beinahe gleichen würden. Torsten Lemmer sitzt mit verschränkten Armen daneben und stellt seine Aussteigerbrief vor: „Ich habe Schluss gemacht! Schluss mit der Intoleranz, die wir, wenn auch nicht bewusst, mit unseren Ansichten vertreten haben.“ Das steht jetzt auf seinen Internet-Sites. Warum er seine Anteile am Musikverlag noch nicht abgegeben habe? Drei Monate habe sein Mitgesellschafter Vorkaufsrecht. Davor könne er nichts unternehmen. Den Mietvertrag habe er aber schon gekündigt. „Die stehen ab Ende Mai ohne Haus da.“
Am liebsten wäre es ihm, Otto Schily kaufte ihm den Musikverlag ab. Sein Angebot: Für zwei Millionen Mark wird der Innenminister zum weltweit größten Rechtebesitzer an rechter Musik. „Die kann er dann komplett einstampfen, wenn es ihm ernst ist.“ Torsten Lemmer will groß einsteigen ins Aussteigergeschäft. Eine Million Mark des Erlöses soll an das Schlingensief-Aussteiger-Projekt naziline.com gehen. Mit dem will Lemmer dann im nächsten Jahr in „Brennpunkten in Ostdeutschland“ Theaterprojekte unterstützen, „oder auch Lothar Matthäus mal zu einem Workshop einladen“. Von den „Antifa-Scheißern“ aus dem Aussteigerprogramm Exit hält er nichts: „Die kommen doch an keine Funktionsträger ran.“ Er hingegen hätte schon Anfragen von zwei Dutzend Leuten aus der Szene.
Torsten Lemmer hat die Sache im Griff. Der Abend und auch der nächste Tag werden zu einer großen Lemmer-Show. Lemmer bestimmt, wann der Bus weiterfährt. Lemmer dirigiert, Lemmer steht in der Mitte jedes Fotos – „ja bitte, mit Blick auf die Synagoge, Herr Lemmer“ – Lemmer legt an Brechts Grab einen Kranz nieder. Aber Lemmer ist auch ein Star von Schlingensiefs Gnaden. Fast rührend, wie er erläutert, dass ihn der Regisseur im Sommer in seinem Ferienhaus in Kroatien „direkt am Meer“ besuchen wird, und dass er im neuen Schlingensief-Film mitspielt, „das hat er mir versprochen“. Als er erfährt, dass Schlingensief eine neue Talkshow plant, bettelt er: „Oh, da möchte ich dein Assistent sein, Christoph.“
Hamlet ist mit Sicherheit Schlingensiefs bislang merkwürdigstes Projekt. Natürlich sind sie nicht wirklich glaubwürdig, all die stramm memoriert vorgetragenen Aussteigerbiografien, die den Journalisten immer und immer wieder aufgesagt werden. Doch auf die Frage, wer hier wen für seine Zwecke benutzt hat, wird die Antwort immer nur Schlingensief lauten. Der Dramaturg Carl Hegemann sagt: „Eigentlich wollten wir mit dem Projekt nur die Absurdität des Exit-Programms der Bundesregierung darstellen. Und jetzt wollen die plötzlich wirklich aussteigen. Es ist nicht zu fassen.“
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