: Rückwirkend DDR-Bürger
Heute hat am Deutschen Theater Shakespeares „König Lear“ Premiere. Es ist Thomas Langhoffs Abschiedsinszenierung an diesem Haus, dessen Intendant er genau zehn Jahre lang gewesen ist
von ESTHER SLEVOGT
Der neue Intendant hat einen völligen Neuanfang versprochen. Oder muss man doch sagen, Bernd Wilms hat ihn angedroht? Denn wenn's stimmt, dass auch hier jetzt alles so neu werden wird wie sonst in Berlin, dann muss man eben an das Alte noch einmal erinnern. Denn dieses Haus, das ist ja nicht irgendein Stadttheater, dem jeder Neue schnell das verpasste, was man heutzutage eine Corporate Identity nennt. Doch um Identität ist es an diesem Haus in den letzten 70 Jahren schon gegangen. Um so etwas wie kulturelle Identität, die gegen Zeiten und Regime hier behauptet wurde. Ob das Heinz Hilpert war, der das Haus durch die Nazizeit führte, oder Wolfgang Langhoff, der legendäre Intendant von 1946 bis 1963. Ein kommunistischer Gegen-Gründgens, der hier versuchte, die von der Nazidiktatur gerissenen Theaterfäden wieder zu verknoten, bis die Partei ihn nicht mehr ließ. Hierher kam Brecht zurück aus dem Exil und Schauspieler wie Ernst Busch. Dieses Theater war zwar das Nationaltheater der DDR. Aber hier war auch ein Ort, wo theatralische Entwürfe Ideologien oft wie Kartenhäuser in sich zusammenfallen lassen konnten. Nach der Wende war das Deutsche Theater dann eine Zeitlang fast ein gesamtdeutsches Nationaltheater. 1991 hatte Thomas Langhoff die Intendanz übernommen, und war Everybody's Darling im frisch vereinigten Berlin.
Inzwischen hört er das Wort Nationalkultur gar nicht mehr so gerne: „Da ist man heute schnell bei der Leitkultur“, sagt er. Er sitzt im kirschholzgetäfelten Intendantenzimmer, das vor fünfzig Jahren in den Werkstätten des Theaters nach Entwürfen des Bühnenbildners Heinrich Kilger für seinen Vater gebaut wurde, und wirkt ziemlich aufgeräumt. „Bald muss ich hier meine Sachen packen“, sagt er und zeigt auf den Platz, wo er als Junge schon seine Hausaufgaben machte. Denn Everybody’s Darling ist er schon lange nicht mehr.
Die Geschwindigkeit, mit der in Berlin die Wunden verschwinden, die von der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts noch erzählen konnten, lässt einen ja manchmal schwindeln. Und das Merkwürdige ist, dass es einem oft schwer fällt, sich angesichts all der neu erfundenen Orte noch an das Davor zu erinnern. Die Wucht, mit der diese Stadt nach 1989 endlich ihre Geschichte abzuschütteln versuchte, hat die Theater zuletzt erreicht. Doch inzwischen ist auch hier alles neu geworden. Schiller Theater, Schaubühne, Berliner Ensemble. Weiß denn noch einer, was da vorher war? Nur Castorfs Volksbühne ragt trotzig-rotzig gegen das Vergessen an. Noch sechs Wochen, dann wird auch das Deutsche Theater total erneuert. Und Thomas Langhoff fällt es schwer, hinter seinem Rausschmiss etwas anderes als die Verdrängung des DDR-Kulturerbes zu sehen. „Es gibt“, sagt er, „kein gesamtdeutsches Kulturerbe. Was als Kulturerbe gilt, ist die Westkultur.“ Sehr deutlich sei ihm das auch noch einmal geworden, als im Zuge von Steins Faust-Inszenierung die Faust-Rezeption in den Blick geriet. Dabei sei völlig unter den Tisch gefallen, dass es auch in der DDR wesentliche Faust-Inszenierungen gegeben hat. Nicht dass man das DDR-Kulturerbe bekämpfen würde. Doch man gibt es einfach dem Vergessen anheim. „Ich bin erst rückwirkend ein DDR-Bürger geworden“, sagt der 1938 im Züricher Exil geborene Langhoff.
Wenn man nun am Samstagabend König Lear in einem blutigen Generationenkrieg untergehen sieht, wird man nicht umhinkönnen, hier auch Thomas Langhoffs eigenes Drama zu erkennen, obwohl er selbst diese Analogie für zu kurz gegriffen hält. Langhoff, der mit der Entdeckung von Thomas Ostermeier einer der Väter des radikalen Generationswechsels an den deutschen Theatern war. Noch heute ist ihm die Zufriedenheit darüber anzumerken. Auch wenn er sagt, dass seine Wahl auf Ostermeier nicht ausschließlich wegen seines Talents als Regisseur gefallen ist. Damals war die Ostberliner Schauspielschule Ernst Busch, in deren Regieklasse Ostermeier studierte, von der Abwicklung bedroht. Unter Ostermeiers Führung, erzählt Langhoff, hätten die Studenten gegen diese Pläne gekämpft, „in einer Art und Weise, die einen alten Revolutionssüchtigen wie mich hoch erfreut hat. Und wie Thomas Ostermeier das gemacht hat, das war für mich auch schon künstlerisch. Das hat mir im Grunde sogar noch besser gefallen als die Studioaufführungen, die ich gesehen hatte. Ostermeier, der ist durch und durch Führungsnatur.“
Langhoff selbst war nie ein Mann der großen Konzepte. Ihn interessierten eher die Spuren, die große Konzepte in Menschenseelen hinterließen. In seiner Inszenierung von Tschechows „Onkel Wanja“ sind die Menschen von ihren Erwartungen an das Leben so geblendet, dass sie gar nicht merken, wie das Leben leise und ungelebt an ihnen vorübergeht. Auch in „König Lear“ kommen sich, trotz Tragödie und Raserei, die Menschen plötzlich ziemlich nahe. Langhoff hat auch ein Herz für Goneril und Regan, die beiden Lear-Töchter, die so oft bloß böse Furien sind. Muss man denn nicht verstehen, dass sie ihren marodierenden Vater in die Schranken weisen müssen? Und die liebende Cordelia, wenn man ihr bei Langhoff zuschaut, ist sie nicht wirklich ein bisschen kalt? Langhoffs Verständnis haben auch die alt gewordenen Helden. Jörg Gudzuhns alter Gloster, der eine Beinschiene trägt, die von einer Kinderlähmung zeugt. Eine frühe Krankheit, die niemals heilte, weil eben auch die Alten von innen immer noch die Kinder von damals sind.
Wenn Langhoff Ende Juni seine Sachen packt, wenn im schönen Intendantenzimmer die Zeichnungen abgehängt sind, die seinen Vater zeigen, dann ist auch ein Stück Theater-Familien-Geschichte zu Ende. „Mein Vater wurde ja von den Russen an dieses Theater gerufen, und er folgte diesem Ruf, weil hier ja ,die Genossen‘ waren. Doch der wirkliche Grund ist der Mythos des Deutschen Theaters gewesen. Das war für ihn das Größte, was es überhaupt gibt, und ich habe als Kind schon immer gewusst, dass es tolle Theater gibt. Aber da gibt es ein Theater, und das ist das Nonplusultra.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen