: Das Genre der Nichtdabeigewesenen
68er im Wartestand (Teil II): Helden als Hohlformen, die man mit dem eigenen Lebensgefühl ausfüllte oder Wie wir als Teenies Jack Kerouac und Sartre nachspielten
Vor einigen Monaten traf ich mich mit Hans Wallow, einem sympathischen SPD-Politiker Mitte sechzig, der lange Jahre im Bundestag war und ein Theaterstück geschrieben hat, in dem er die herrschenden Missstände, Intrigen, Eitelkeiten in der Bundespolitik anprangerte und sich darüber aufregte, dass die „Gewaltenteilung nicht mehr funktioniert“. Wie immer war ich zu spät zu unserem Treffen gekommen. Wallow, übrigens auch ein taz-Genossenschaftler, begrüßte mich mit den Worten, das sei eben das Kernproblem der undogmatischen Linken, dass sie immer zu spät kommen würden.
Das Zuspätkommen ist eine existenzielle Grunderfahrung, mit der viele groß geworden sind, die sich als Jugendliche in den 70ern auf 68 bezogen. Man war zu spät geboren für 68, bezog sich aber ständig darauf. Während einem die Eltern ständig ihre Kindheit in der Nazizeit vorhielten – guck mal, wie gut du das doch hast –, sehnte man sich als Teenager nach 1968. 68 schien eine Zeit gewesen zu sein, in der alle Möglichkeiten offen standen und alles großartig und spannend gewesen sein musste.
Für die Zuspätgekommenen war 68 alles Mögliche: rebellische Studenten mit Sonnenbrille, die Freak Brothers, Sex, Ché Guevara (in der Jugendbuchversion von Frederik Hetmann), Haschisch, Woodstock, Hermann Hesse, die Autoren der Beatgeneration usw. Alles, was toll und anders schien, als das Leben um einen herum, aber eben nicht mehr da. Es gab zwar auch Reste von 68 in der norddeutschen Kleinstadt, in der ich aufwuchs – Freunde meiner großen Schwester, die einen Afrolook trugen, eine Hasch-Kneipe, die schlecht beleumdet war, obwohl die Leute draußen kifften, eine Wohngemeinschaft mit Langhaarigen, die einen Synthesizer hatten, Leute vom KBW und Leute vom KB, die immer im Parka am ZOB ihre Zeitungen verkauften und einander hassten, Freaks, bei denen man rumhing, doch das waren nur die Reste eines Festes, zu dem man leider zu spät gekommen war, und weil man als 60er-Jahre-Jahrgang zu spät gekommen war, spielte man eben alles nach.
Das bot sich an. Die Vorlagen für ein Nachspielen, die Bücher aus der großen Zeit waren ja erst in den Siebzigern erschienen und interessierten einen mehr, als etwa die 68er Lehrer, die so allmählich eintrudelten: Vespers Romanfragment „Die Reise“ (77), Uwe Timms „Heißer Sommer“ (75), die gesammelten „Kursbücher“ von 66–70, Bommi Baumanns „Wie alles anfing“; auch die Werke der Beatgeneration, die man irgendwie auch zu 68 zählte, erschienen hier größtenteils erst in den 70er-Jahren.
Das ging vielleicht zwei Jahre, in denen wir als Teenager auf der Suche nach der verlorenen Zeit die Kerouac-Bücher nachspielten, mit „On the road“ im Gepäck durch die Gegend trampten, vor allem Musik aus den 60ern hörten. Einmal fuhr ich sogar nach Hamburg und suchte lange nach einer 68er-Kneipe, die Uwe Timm in seinem Buch erwähnt hatte. Die Helden, die man hatte, waren keine Idole, sondern eher Hohlformen, die man mit seinem Lebensgefühl auszufüllen versuchte.
Alles war zwar Klasse wie jede Jugend, aber man spürte doch irgendwie, dass es nicht ganz echt war, und dass das, worauf man sich bezog, längst vergangen war, wie das Woodstockfestival, das Ende der 70er auch in Deutschland auf Revivaltournee war und auf dem Country Joe McDonald immer noch seinen Protestsong gegen den Vietnamkrieg vortrug, der längst vorbei war, genauso wie der Freistaat Christiania, der auch schon recht runtergekommen war, als man ihn endlich besuchte.
Groß war auch die Enttäuschung, als man irgendwann mitkriegte, dass die Romane der Beatgeneration nicht in den 60ern, sondern in den 40er- und 50er-Jahren spielten. Danach hörte man Ton Steine Scherben, von denen man dann auch hörte, dass sie früher Klasse, aber inzwischen korrupt waren; danach spielten wir kurzzeitig die Debatten zwischen Camus und Sartre nach.
Am Ende der teenagerhaften Identifikationsversuche stand die Beschäftigung mit dem Selbstmord. Das wird ja oft vergessen, dass ein Teil von 68 mit Selbstmorden und Selbstmordbüchern endete. Die Terroristen brachten sich um, Jean Améry und Bernward Vesper brachten sich um, Christa Wolf schrieb ihr Buch über den Freitod von Kleist und Henriette Vogel, zwei linke Franzosen veröffentlichten den Bestseller „Gebrauchsanleitung zum Selbstmord“, der in Deutschland dann verboten wurde.
Zu spät kam man weiter: Man zog nach Berlin, als die Hausbesetzerbewegung grad zu Ende war, man sah Bowie und Iggy Pop, als sie ihre besten Zeiten schon hinter sich hatten; während des Studiums begeisterte man sich meinetwegen für den „Anti-Ödipus“ von Deleuze/Guattari und merkte dann plötzlich, dass das Buch 68 erschienen war. Oder man bewunderte Foucaults ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“ in einer Zeit, als der seine Thesen im zweiten Band, der in Frankreich grad erschienen war, längst schon revidiert hatte.
Oder man studierte an einem Institut, dessen Dozenten immer noch im Banne Peter Szondis standen, der sich Anfang der 70er-Jahre das Leben genommen hatte. Früher war immer besser, die taz natürlich auch, und wie der Engel in Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen, starrte man immer in die Vergangenheit auf Niederlagen, bei denen man selber nicht dabei gewesen war.
Im Umfeld von 68 war mal ein psychoanalytisch geprägtes Buch erschienen. Das hieß „Love's body – Wider die Trennung von Geist und Körper, Wort und Tat, Reden und Schweigen“. Eigentlich sehnte man sich auch danach, die Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu überwinden, in dem Sinne vielleicht, in dem bei der Französischen Revolution erstmal die Uhren abgeschossen wurden oder in dem Jim Morrison 1969 sein „We want the world and we want it“ mit einem berühmten „Now“-Schrei beschlossen hatte. Als Teenager hat man das mit Gänsehaut ganz laut gehört und jeden, der mit im Zimmer war, sehr darum gebeten, auf die wichtigen Worte zu achten. Man hatte nicht daran gedacht, dass dieses Stück doch „When the music's over“ hieß und dass das Now der Live-Platte (ebenfalls so ein Nichtdabeigewesengenre) auch schon eine ganze Weile her war.
Bezeichnenderweise hatten die Frankfurter Spontis zur gleichen Zeit dann die Morrison-Verse zu ihrer Parole gemacht, die auf Deutsch – „Wir wollen alles – jetzt“ nicht so schick klang, wie auf Englisch, aber immer noch besser, als die ewigen Ton Steine Scherben, die bis weit in die 90er-Jahre auf keiner linken Demo fehlen durften.
Den peinlichsten Moment linker Regression erlebte ich mal auf einer Party, an deren Ende zwei RedakteurInnen, sich selber zu Tränen rührend die „Moorsoldaten“ sangen; den lustigsten, als christenhaft wirkende Ost-Anarchos in der Nacht des 9. Novembers am Checkpoint Charlie tatsächlich das ganze „Keine Macht für niemand“-Doppelalbum heruntergesungen hatten. Danach war'n sie heiser. Und man selber hatte das Gefühl, wieder in der Gegenwart gelandet zu sein.
DETLEF KUHLBRODT
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen