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Pioniere bei der Reichsbahn

Kultur von unten: Auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerkes (RAW) in Friedrichshain tummeln sich viele Initiativen. Die Bahn AG hat jetzt den Nutzungsvertrag gekündigt

von SILVIA LANGE

Das Eingangstor an der Revaler Straße 99 ist meistens geöffnet. Trotzdem zögert man kurz, hinter die drei Meter hohe Mauer zu gehen, denn ein Schild der Deutschen Bahn verbietet Unbefugten das Betreten des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerkes (RAW). Auch die Nutzer des Geländes vom RAW-Tempel e. V. warnen: „Zutritt nur für Mitglieder und Gäste“. Wer sich als solches fühlt, steht nach ein paar Stufen vor einem mit Efeu überwucherten Klinkersteingebäude aus der Gründerzeit. Erst ein paar Schritte weiter lässt sich die wahre Größe des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks erahnen: Auf insgesamt 100.000 Quadratmetern liegen Werk- und Lagerhallen zwischen den S-Bahn-Gleisen und der Revaler Straße im so genannten Revaler Viereck brach. Seit zwei Jahren wird ein kleiner Teil davon, vier denkmalgeschützte Gebäude und ein paar Freiflächen, von mehr als 30 Kultur-Initiativen unter dem Dach des RAW-Tempel e. V. „zwischengenutzt“.

Doch die aktuelle Weichenstellung bedroht die Existenz dieser Projekte: Die Vivico Management GmbH als Beauftragte der Eigentümerin, der Deutschen Bahn AG, hat dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg den Nutzungsvertrag, der bis Mitte 2002 laufen sollte, gekündigt (die taz berichtete). Der RAW-Tempel e. V. ist Untermieter des Bezirks und muss demnach bis Ende Juni das Gelände verlassen. Der Bezirk hat der Kündigung zwar formal widersprochen, fordert die Nutzer jedoch auf, die beklagten Vertragsverletzungen zu unterlassen. Dadurch könnte die Vivico veranlasst werden, von der Kündigung Abstand zu nehmen, so die Einschätzung von Vizebürgermeister Michael Schäfer (CDU).

Den RAWlern wird „illegale Untervermietung“, „unerlaubtes Wohnen auf dem Gelände“ und „Verstoß gegen Brandschutzbedingungen“ vorgeworfen. Doch die Raumverteilung an andere ist eine zentrale Aufgabe des Vereins, der keine kommerziellen Ziele verfolgt, sondern für die Nutzung nur die Übernahme geringer Betriebskosten verlangt. Der Bedarf ist enorm, erzählt Betriebskoordinatorin Mikado Schütt: „Jede Woche bekommen wir 10 Raumanträge.“

So konnte sich dort, wo zu DDR-Zeiten Kühlwagen der Reichsbahn gewartet wurden, ein buntes Kulturangebot entwickeln: Am Wochenende wird im improvisierten Strandcafé zu Afro-Beat und Barbecue Tischtennis und Kicker gespielt. Dienstags gibt es Salsa-Kurse und Mittwochs Samba-Percussion. Die originellsten Projekte werden erst sichtbar, wenn man ins „Ambulatorium“ oder ins ehemalige Stoff- und Gerätelager hineinschaut: Dort entwickeln elektronische Musiker namens „Orbital Dolphins“ psychoaktive Molekularfrequenzen zur akustischen Bewusstseinserweiterung und bieten dadurch „modernes Substitutionsmanagement“ für Drogenabhängige an. Die „UKF@RAW“ sind stolz auf die „subversive Markteinführung“ des Begriffs Ultrakurzfilm, der nicht länger als 30 bis 60 Sekunden sein darf und ständig auf dem Gelände entsteht. Zwei Häuser weiter setzt sich die „workstation“ in dem Bezirk mit über 20 Prozent Arbeitslosigkeit mit neuen Formen der Arbeit auseinander.

Die temporäre Nutzung der Industriebrache wird durch ein Forschungsprojekt unter Leitung des Architekten Philipp Oswalt an der Technischen Universität begleitet. Da das Gebiet nach Meinung der Wissenschaftler nicht „klassisch“ entwickelt werden kann, befürworten sie eine Nutzung mit vorhandenen Ressourcen. Doch die Deutsche Bahn AG fährt auf der klassischen Schiene: Auf lange Sicht will sie das Gelände gewinnbringend verkaufen – dann könnten hier Einkaufscenter, Restaurants, Büros und Wohnlofts entstehen. „Je schlechter unsere Verwertung ausfällt, umso weniger kann der Bund ins Schienennetz investieren“, beschreibt Vivico-Geschäftsleiter Jürgen Heyder seinen Auftrag.

Schützenhilfe bekommt der RAW-Tempel von den Bezirksverordnetenfraktionen von PDS und SPD, die die Kündigung verurteilen. Um auch im Kiez mehr Unterstützung für das selbst ernannte „Paralleluniversum in der Pionierphase“ zu aktivieren, hat die „workstation“ zu einem stadtteilbezogenen Ideenwettbewerb aufgerufen. „Wir wollen die Anwohner als Hauptakteure gewinnen, um für die industriellen Tempel der Moderne eine zeitgemäße Aktionsfläche für den Kiez zu entwickeln“, beschreibt Frauke Hehl ihre Vision. Die Ergebnisse der Ideenwerkstätten sollen in das städtebauliche Wettbewerbsverfahren eingebracht werden. Außerdem organisiert das Kultbüro Ost ab heute drei Aktionstage nach dem Motto „Raus aus dem RAW-Gelände, rein in den Kiez“ auf dem Boxhagener Platz.

Denn bisher haben zwar im Schatten der hohen Mauer, die um das alte Fabrikgelände steht und es „als Stadt in der Stadt“ weitgehend von Verkehrslärm abschirmt, originelle Projekte gedeihen können – ein Austausch mit den Anwohnern findet jedoch kaum statt. Dazu ist jetzt drei Tage lang auf dem „Boxi“ Gelegenheit: Für Kinder gibt es Bastelprogramm und Mitmachtheater, während sich interessierte Anwohner auf dem Kunst- und Initiativenmarkt kennen lernen sollen. Abends gibt es Filme aus dem Wolfgang-Neuss-Archiv, Lesungen und Live-Bands. Und für die, die sich immer noch nicht trauen, selbst auf das RAW-Gelände zu gehen, steht als neueste Kunst-Installation an der Warschauer Straße ein Aussichtstreppchen an der Mauer. Fast wie früher.

Weitere Infos: www.raw-ev.de

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