: Das Kabinett des Doktor Olbricht
■ Zum zehnten Geburtstag zeigt das Neue Museum Weserburg Kunst, die buchstäblich gerade erst trocken ist: Der Sammler Thomas Olbricht stellt erstmals eine große Auswahl seiner zum Teil schockierenden Erwerbungen aus
Mmmmmuschi. Was für eine riesengroße Muschi. Überlebensgroß hängt sie da im Neuen Museum Weserburg. Für Marc Quinn, der sie fotografiert hat, ist diese auf etwa einen Meter fünfzig aufgeblasene Vulva „Der Ursprung der Welt“. Für Thomas Olbricht, der das Bild gekauft hat, ist sie nur eine von vielen, denn er sammelt Mösen – unter anderem. Er ist nämlich ein Besessener. Und eine Art Jekyll/Hyde ist er möglicherweise auch.
Gerade eben wurde eben dieser Professor Doktor Thomas Olbricht zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Körperpflegekonzerns Wella gewählt. Damit steht wieder ein Mitglied der Eigentümerfamilien an der Spitze des Darmstädter Konzerns, meldete das Manager Magazin vor einer Woche. Im selben Moment stellt der Arzt und Hormonspezialist in der Weserburg erstmals die Ergebnisse seiner privaten Leidenschaft, des Kunstsammelns, öffentlich vor. Und die sind alles andere als gepflegt, wohlriechend und frisörinnungstauglich.
Weibliche und männliche Geschlechtsteile in allen Größen und fast allen Erregungszuständen sind in den Sonderausstellungsräumen im zweiten Obergeschoss des größten europäischen Sammlermuseums versammelt. Dazu kommen Kreuz- und Kreuzigungsmotive, Skelette, Totenschädel und Gruftiebilder. Tellergroße gläserne rote Blutkörperchen sind in Bahnen auf dem Boden drapiert. Wie die Brotkrumen, die Hänsel und Gretel als Wegmarkierung im Wald ausgelegt haben, führen sie durch das Gewucher zeitgenössischer Kunst, Abteilung: Obsessionen.
Thomas Olbricht sammelt nicht mit dem kühlen Kopf und den (pseudo-) objektiven Kriterien von KunstwissenschaftlerInnen. Der Essener gilt als emotionaler Sammler und hat seine Vorlieben für das Abseitige, Körperliche, Sexuelle, Morbide und gelegentlich auch Schockierende. „Sie sehen unglaublich viel und spüren plötzlich bei einem von hundert Dingen: Das ist das richtige“, sagt er in einem Interview, das im hervorragend gestalteten Katalog abgedruckt ist.
Dieses spiralgebundene, mit Aufklappseiten und Transparentfolien gespickte Kunstwerk heißt wie die Ausstellung „Ohne Zögern“ und soll Olbrichts Art der Kaufentscheidung in zwei Worten auf den Punkt bringen. Mit Arbeiten von Cindy Sherman, Thomas Ruff, Andres Serrano, Nan Goldin und vielen anderen ist diese Sammlung selbst alles andere als abseitig. Was unter dem Label „New British Arts“ auf Theaterbühnen, in Film und Literatur Furore machte, spiegelt sich über Großbritannien hinaus längst auch in den bildenden Künsten der vergangenen zehn Jahre wieder.
Anlässlich des zehnten Jahrestags der Gründung holt sich das Neue Museum Weserburg zusammen mit der Gesellschaft für aktuelle Kunst (GAK) und mit Hilfe der Waldemar Koch Stiftung und der Bremer Landesbank jetzt ganz neue Kunst ins Haus. Einige Arbeiten sind buchstäblich noch nicht trocken oder zum Teil erst gestern fertig geworden. Nachdem der Sammler zunächst mit Klassischer und Nach-Klassischer Moderne angefangen hat, ist diese etwas irreführe und „Die Sammlung Olbricht Teil 2“ genannte Schau ein Streifzug durch die Gegenwart.
Vor ein paar Jahren hätte dieses Kabinett des Doktor Olbricht noch einen Skandal ausgelöst. Doch in Zeiten von Big Brother und anderen Formen der Sexualisierung und des seelischen Exhibitionismus sind die Bezüge viel zu offenbar. Da leben (junge) Künstler und in dieser Sammlung mehrheitlich Künstlerinnen im Flimmern und Rauschen des so genannten Medienzeitalters und stellen Fragen: Wer bin ich? Was ist wirklich?
In den Räumen der GAK sind Behausungen aller Art zu sehen. Andrea Zittel, die sich vor zwei Jahren eine Woche lang ohne Uhr eingesperrt und in einem Big-Brother-Solo auf Video aufgenommen hat, nimmt den größten Platz ein. Dazu gesellen sich unter anderem zwei Chill-out-Zonen mit Video-Kunst von Kirsten Stoltmann und Haluk Akakce, die man am besten erst nach dem Rundgang durch das zweite Obergeschoss besucht. Denn auch für Abgebrühte beschert die Schau manchen visuellen Schlag in die Magengrube. John Isaacs Skulptur eines zerfetzten, halb abgefressenen menschlichen Leichnams macht Nicht-UnfallchirurgInnen durchaus zu schaffen. Auch Inez van Lamsweerdes fotografische Inszenierungen aus dem Motivkreis Lolita dürften empfindliche Gemüter irritieren. Aber gab es nicht vor ein paar Jahren Aufregung um die Kinder-Star-Show, in der sich Fünfjährige wie Popstars herrichteten? „Nicht die Kunst ist so, sondern die Wirklichkeit“, sagt Kurator Peter Friese. In der Weserburg wird sie gerade auf sehenswerte Weise demaskiert. ck
„Ohne Zögern“ bis zum 16. September im Neuen Museum Weserburg und in der GAK. Eröffnung am Sonntag, 3. Juni, um 11.30 Uhr. Katalog: 48 Mark. Ein zweiter Band soll während der Ausstellung fertig werden und zusammen mit dem ersten Band rund 60 Mark kosten.
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