: Die eugenische Utopie
Mit einer deutschen „Sondermoral“ wollen Kritiker die Gentechnik aufhalten. Dabei verkennen sie den weltrevolutionären Verfügungsanspruch der Biotechnologie
Fundamentalisten aller Couleur, notorische Fortschrittsgegner, fanatische Lebensschützer, die deutsche Bischofskonferenz, eine dogmatische Justizministerin, eine entlassene grüne Staatssekretärin, ein konservativer Abgeordneter des Bundestags, ein in Ehren ergrauter Bundespräsident und einige versprengte Intellektuelle von links bis rechts – eine merkwürdige Koalition hat sich versammelt, um einen Damm zu sichern, der im Geschosshagel der Sequenzierroboter längst durchlöchert worden ist und den Blick auf eine biotechnologisch inspirierte Regeneration der Gattung freigibt. Handelt es sich hier nicht um eine Versammlung von liebenswerten, aber realitätsfernen Schwärmern, welche die neue Zeit nicht mehr verstehen und mit ihren Marotten den unaufhaltsamen Fortschritt stoppen wollen? Das deutsche Parlament – das wäre meine Prognose angesichts der rapiden Erosion moralischer Bedenken, der suggestiven Wirkung der therapeutischen und wirtschaftlichen Hoffnungen und dem Sog der internationalen Konkurrenz – wird über kurz oder lang den Weg freigeben für die kunstvollen Ingenieure eines besseren Lebens.
Die Köder sind ausgelegt, und die Biopolitik hat angebissen, auch wenn die Hoffnungen auf den Jungbrunnen trügerisch sein mögen. Die degenerativen Erkrankungen des Nervensystems und alle möglichen sonstigen Volkskrankheiten könnten einmal geheilt werden, wenn man die daran beteiligten Gene identifizieren und ihre Wirkung biochemisch beeinflussen könne – verheißt die Genforschung. Krankes oder verbrauchtes Gewebe sei zu ersetzen, wenn man aus Stammzellen frisches Gewebe züchte und per Transplantation oder Injektion zu den funktionsgeschädigten Organen bringe – behauptet die Ersatzteilmedizin. Medikokratische Utopien, so scheint es, haben endgültig den verwaisten Platz der alten Sozialutopien ersetzt. Dass die Humangenetik (lange vor den Nazis übrigens) schon einmal eine Hochblüte hatte und an der Verbesserung der Menschheit arbeitete, ist längst vergessen.
Peter Sloterdijk hatte sich mit seinem Plädoyer für Menschenzüchtung und Merkmalsplanung vor zwei Jahren noch die Empörung des Feuilletons („Zarathustra-Projekt“), die Verachtung der Naturwissenschaften („molekularbiologische Ignoranz“) und den Spott der Philosophie („Geschweife und Geschwafel“) zugezogen. Damals verlangte er schon, den „Geburtsfatalismus“ durch die „optionale Geburt“ zu ersetzen. Heute darf er sich als Prophet fühlen, als seismografischer Prognostiker einer Zeitenwende, die spätestens mit der spektakulär inszenierten Entschlüsselung des Humangenoms eingeleitet worden ist. Er zieht den Bogen von der großen Utopie zu den Niederungen der gegenwärtigen Ethikdebatte, wenn er bei den Karlsruher Verfassungsgesprächen für einen graduell gestuften Lebensschutz plädiert: Werdendes Leben erhalte Würde erst, wenn es durch die Mutter bzw. den mütterlichen Organismus „adoptiert“ werde; es sei Ausdruck fehlender gynäkologischer Grundkenntnisse, einem extrakorporal erzeugten Zellhaufen Verfassungsrang und absoluten Schutz zu gewähren.
Ausgerechnet die FAZ, die unter der Führung ihres Mitherausgebers noch im letzten Jahr ihr Feuilleton den biowissenschaftlichen Technikaposteln für ihre fiebrigen Heilslehren zur Verfügung gestellt hatte, organisiert nun den Abwehrkampf um die Würde des embryonalen Menschen. Die biotechnologische Debatte ist aber nicht von jener über den Embryo zu trennen, wie Frank Schirrmacher hofft: Am Anfang stand der eigene utopische Schwung – und nun ist man bei der Instrumentalisierung des werdenden Lebens gelandet, das der Solidarität der Gattung geopfert werden muss.
In den Fieberschüben der Utopie wird freilich eine zentrale Frage gerne an den Rand geschoben: ob wir überhaupt alles können werden, was einmal zu können wir behaupten. Die spektakulären Aussichten auf eine Neuschöpfung der Gattung, auf eine Befreiung der Menschheit von den Zufällen der Natur, auf die Übernahme der Evolution gar durch den Homo sapiens – sie sind nämlich von beklemmender Schlichtheit, wenn man den hohen Ton, die eitle Selbstgefälligkeit und die auffälligen Züge des Bizarren einmal außer Acht lässt, mit der sie verkündet werden. Drei eng miteinander verknüpfte Leitideen im biotechnologischen Credo sind im interdisziplinären Diskurs der Humanwissenschaften längst obsolet geworden. Der biologistische Determinismus eines im Erbgut festgelegten Programms folgt einem überholten Kausalmodell von Ursache und Wirkung, das die zirkuläre Dynamik lebender Systeme verfehlt – autopoietisch sich entwickelnde Organismen lassen sich nicht gezielt steuern, ihre riskante Manipulation kann in Systemkatastrophen enden. Der materialistische Reduktionismus klammert mit der Frage nach der Emergenz von psychischen Phänomenen ausgerechnet jene Dimension des Menschseins aus, die uns vom Tier unterscheidet – es gibt kein Gen für Intelligenz, Einfühlung oder Moral. Die naturalistische Amöbensage vom Menschen, der sich aus der Zelle entwickelt wie der Apfel aus dem Kern, ignoriert den Wechsel der Humanwissenschaften zu einem intersubjektiven Paradigma – das Individuum ist keine Monade, sondern bildet sein Selbst in der Interaktion mit seiner sozialen Umwelt.
Die Verdinglichung des Embryos zum Rohstoff ist nur der sichtbare Ausdruck einer weitaus tieferen Grenzverletzung, die im generellen Anspruch des biowissenschaftlichen Szientismus liegt, nämlich in das organische Substrat unter der Idee von Planung, Formung, Verbesserung einzugreifen. Es ist aber die Unverfügbarkeit über dieses Substrat, die Zufälligkeit des kombinierten Chromosomensatzes, auf der unsere Vorstellungen von menschlicher Freiheit und Selbstverantwortung unausgesprochen ruhen. Jürgen Habermas („Begründete Enthaltsamkeit“, Merkur 2/2001) nennt diese „unscheinbare Kontingenz“ eine stumme Bedingung für die Gleichheit aller Menschen und die individuelle Aneignung der Lebensgeschichte im Verlauf der Sozialisation. Sie erlaube erst ein reflexives Verhältnis zu sich selbst, das die Haftung eines anderen für die eigene Identität ausschließt. Dem gezielt mit Anlagen versehenen Menschen werde diese Kontingenz vorenthalten; damit werde der Unterschied zwischen Personen und Sachen verwischt. Hier liegen die eigentlichen Probleme einer Gattungsethik, die durch den Verfügungsanspruch von Biotechnologie und Reproduktionsmedizin aufgeworfen werden.
Gestattet die Gattung sich selbst ein Programm der Regeneration, das die Conditio humana in ihrem Fundament erschüttert? So lautet die ethische Grundfrage jenseits von Embryonenschutz und Präimplantationsdiagnostik. Auf den Spuren einer deutschen „Sondermoral“ wird die Würde des Menschen auf Dauer nicht zu schützen sein. Das universelle Projekt einer Wiedergeburt der Menschheit aus der Petrischale bedarf einer weitaus gründlicheren Revision.
MARTIN ALTMEYER
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