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IV. Was würdest du tun, wenn du nur noch ein Jahr zu leben hättest?

„Hätte ich diese Frage bloß nicht gestellt“, sagt meine Frau heute. Immer habe ich geantwortet, eines von zwei Dingen zu tun: „Weitermachen wie bisher oder nach Arizona in eine Hütte in der Wüste gehen, um Sonnenauf- und -untergänge zu beobachten.“

Wie gewohnt kann ich nicht arbeiten, das haben mir alle Ärzte gesagt. Stress müsse vermieden werden, und der Journalistenberuf ist stressig. Bayern aber ist nicht Arizona. Weshalb bin ich eigentlich hier? Das habe ich mich oft gefragt, als suchte ich nach einer Rechtfertigung für meine Nichtarbeit.

Nun, ich wollte die Therapie nicht aufschieben. Ich hatte mit den Untersuchungen schon viel Zeit verloren und mit der Frage, ob ich überhaupt eine Therapie machen soll. Aber ohne sie würde dem Krebs nichts Paroli bieten. Klar, das National Institute of Health in Washington, von dem ich keine fünfhundert Schritte entfernt wohnte, beschäftigt sich auch mit NSCLC.

Und in Amerika habe ich mich wohl gefühlt. In Amerika hatte ich Kollegen und Freunde, meine Frau ihre beste Freundin. Warum also bin ich nicht nach Amerika, wie geplant, zurückgegangen?

Als wir noch bei meiner Mutter wohnten, wachte meine Frau eines Nachts auf und sagte: „Ich weiß jetzt, was wir machen. Ich fliege mit einem unserer Jungen nach Washington, löse das Haus auf, und wir suchen uns hier in Deutschland eine Wohnung. In Washington können wir das Haus von deinem Gehalt nicht bezahlen. Schon gar nicht, ohne dass du hinzuverdienst. Von dem Krankengeld können wir unsere Miete nicht bezahlen, wenn du denn in Amerika überhaupt welches kriegst“ (nein, wie ich inzwischen weiß).

„Dann wäre da noch das Problem mit der Krankenkasse. Du bist über die AOK pflichtversichert, und die bezahlt die hohen amerikanischen Arztrechnungen nur zu deutschen Sätzen.“ Ich würde mich mit meiner Chemotherapie schnell arm machen, denke ich. Etwa drei- bis viertausend Dollar pro Cocktail, die Krankenhausaufenthalte nicht gerechnet, rechnet mir später Dr. Krajewski vor. Eine amerikanische Versicherung nimmt mich jetzt, da ich Krebs habe, sowieso nicht mehr auf. In Deutschland hingegen bekomme ich alles umsonst.

„Außerdem hast du in Deutschland deine Söhne.“ Sagte meine Frau. Was meint sie damit: dass meine Söhne mich brauchen? Oder dass ich sie brauche? Meine Frau meint natürlich beides – eher aber Ersteres.

Meine Frau traf immer schnelle Entschlüsse. Und ich widerspreche nicht. „Wo wollen wir wohnen?“, fragte ich. „Entweder in Hannover, wo wir vorher gewohnt haben, oder in Berlin.“ In der Hauptstadt finde ich vielleicht kleine Arbeiten, denke ich mir. Von Washington nach Berlin also?

Weder Hannover noch Berlin aber kam in meinen Antworten auf die Frage vor, was ich mit meinen letzten Monaten machen würde. Wird sie überhaupt ernst genommen? „Ich wollte dich damit auf etwas aufmerksam machen“, sagt meine Frau, „dass du zu viel arbeitest und dass die Arbeit mich zu verdrängen beginnt.“ Ersteres schlug ich in den Wind, Letzteres überhörte ich.

Was hätte ich denn gemacht, wenn ich die Krankheit in Amerika entdeckt hätte? Nach Virginia auf eine Farm? Die von einer ehemaligen Kommune bewirtschaftet wird – nahe Monticello, wo Thomas Jefferson, zweiter Präsident der USA und Autor der Unabhängigkeitserklärung, sein Haus gebaut hat?

Einer der schönsten Plätze dieser Erde, vor zehn Jahren haben wir dort mal gewohnt. Den Weg dahin findet man nur per Beschreibung. Im schlammigen Hardware River, der die Weide der Farm begrenzt, habe ich inmitten von Sträuchern und Unterholz öfter gebadet und sogar Biber beobachten können. Die Leute da würden uns aufnehmen, haben sie gesagt, und nach Charlottesville, zur Klinik der University of Virginia, sind es allenfalls 45 Minuten. Warum ziehen wir eigentlich da nicht hin? Ach ja, wegen der Versicherung.

In den Bergen unterhalb Montalcinos, wo der berühmte Rotwein angebaut wird, liegt der kleine Hof meines Bruders. Dreißig Minuten von Siena entfernt. Mein Bruder schlägt vor, dorthin zu gehen. Auch wunderschön. Aus dem Schlafzimmerfenster, erinnere ich mich, sah man die Nebel in den Tälern aufsteigen, und den ganzen Tag schien die Sonne.

„Wie sieht es dort mit der medizinischen Versorgung aus?“ Nicht gut, erfahre ich. In Siena würde man die Blutproben, die eventuell notwendige Bluttransfusion und sogar die Chemotherapie machen können. Aber Therapien, die Schmerzen lindern? Die sind in Italien noch weitgehend unbekannt, da denkt man gleich an Holland und Euthanasie. Und wegen Morphium muss man erst in Rom anfragen. „Wie sterben denn Krebspatienten in Italien?“, frage ich einen deutschen Arzt, der sich in der Toskana niedergelassen hat. „Sehr schlecht“, antwortet der. Außerdem zahle die AOK einem in Italien lebenden Patienten kein Krankengeld, weil sie Italien nur als Urlaubsland sieht. Was, bitte schön, macht einer, der krank sein will, in Italien? Wo ich gerne hinginge – Montalcino oder Monticello, Italien oder Virginia –, kann ich nicht hin. Nach Berlin und Hannover will ich nicht. Also bleibt mir Bayern.

Aber ich tröste mich. Hier in der Gegend hat sogar der bayerische Balzac gelebt und geschrieben, Oskar Maria Graf, der Mitte der Dreißigerjahre im amerikanischen Exil geblieben ist und mit Lederhosen in einer New Yorker Kneipe sein Bier getrunken hat. Wenn Graf nach New York gehen konnte, kann ich doch aus Washington nach Bayern gehen, geht mir durch den Kopf. Graf beschreibt Wolfratshausen, den Starnberger See und die Ortschaft Berg. Gegenden, die ich inzwischen kenne, weil meine Mutter dort lebt. Und ich auch.

Hier gibt es den Blick auf die Alpen, den ich bei langen Spaziergängen genieße. Graf beschreibt auch Ludwig II., der auch so ein Baumeister wie Jefferson war. Lesen und spazieren gehen ist, was mir zurzeit Freude macht. Worüber also beklage ich mich eigentlich?

Die Art der Bayern ist mir fremd, milde ausgedrückt. Die Art der Deutschen, ja der ganzen Alten Welt ist mir nicht mehr vertraut. Mir fehlt vieles, was ich in Amerika hatte. Ich kann, um nur ein Beispiel zu nennen, hier in kein Café, in keine Kneipe, in kein Restaurant gehen, weil dort geraucht wird. In Amerika bin ich zum Cafégänger geworden. Nicht nur weil da nicht geraucht wird – Sekundärrauch habe ich mein Leben lang gemieden wie der Teufel das Weihwasser –, sondern auch weil es da Internetanschlüsse gibt und man mit seinem Laptop stundenlang sitzen und schreiben und lesen kann. Und natürlich weil der amerikanische Kaffee – allen Vorurteilen zum Trotz – besser als der deutsche schmeckt.

Einen Anschluss ans Internet gibt es auch in der Gautinger Lungenklinik nicht. Ich habe Dr. Paul darauf angesprochen. Er sagt, dass nicht einmal er Zugang zum Internet hat, worüber er eigentlich ganz glücklich sei, weil er sonst tausend E-Mail-Anfragen zu beantworten hätte. Ich kann nicht begreifen, wie dieser Mann forscht.

Meine Frau findet für uns eine Ferienwohnung auf einem Bauernhof nahe der Lungenklinik. Wir wohnen hier etwa einen Kilometer von einer Ortschaft entfernt, die Einöd heißt. Aus dem quirligen Washington mit seinen marmornen Palästen komme ich also in eine Gegend, wo die Felder nach Gülle stinken. Nun ja, ich wollte schließlich nach Arizona, denke ich, wo auch Viehbesitzer das Sagen haben, während ich morgens um sechs Uhr wach liege und die B 13 sowie die Autobahn nach Starnberg und Garmisch-Partenkirchen höre.

Noch vor einigen Wochen habe ich befürchtet, obendrein wegen der vordringenden Maul- und Klauenseuche eingesperrt zu werden. Wir haben zurzeit kein Zuhause, unsere Habe ist verstreut, teils befindet sie sich in Washington, teils bei einem Umzugsunternehmen, teils hier. Unsere Möbel sind untergestellt, weil wir nicht wissen, wo wir bald leben werden. Wenn normale Feriengäste kommen, müssen wir unsere Ferienwohnung verlassen. Keine Ahnung, ob ich dann überhaupt irgendwohin ziehe. Sagte Dr. Stellmacher nicht, in der Gegenwart leben und die Zukunft vergessen?

Geblieben ist mir das Heimweh nach einem früheren Leben. Ich bin nicht mehr im Zentrum der Welt. Ich gehe nicht mehr durch die Hauptstadt aller Hauptstädte, als schwebte ich auf Wolken. Ich gehe nicht mehr am Kapitol vorbei und sage Gästen aus aller Welt mit einer Mischung aus Stolz und Verachtung: „Keine wichtige Frage der Welt wird geregelt, bevor sie nicht hier entschieden wird.“

Vom Dach der Welt in dessen Keller gestoßen, von der Höhe der Macht in die Tiefen der Ohnmacht. Keiner will mehr hören, was ich aus der Hauptstadt des Westens zu erklären habe. Ich habe die Paläste der amerikanischen Republik, die zu meinem Ambiente gehörten, buchstäblich mit dem Misthaufen in Einöd vertauscht.

Hiob hat es kaum schlechter getroffen. De profundis clamavi ad te, denke ich: Aus der Tiefe rufe ich zu dir.

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