: „Ich hatte eine Fünf in Deutsch“
Interview CHRISTIAN FÜLLERund SEVERIN WEILAND
taz: Herr Özdemir, was raten Sie einer Mutter türkischer Herkunft, die ihr Kind von der Schule nehmen will, weil zu wenig deutsche Muttersprachler in der Klasse sind?
Cem Özdemir: Deutschtürkische Bekannte fragen mich das häufiger, als Sie denken.
Und: Was antworten Sie?
Das, was ich selber tun würde, nämlich nach dem Motto handeln: Alles für das Wohl des Kindes! Und das kann auch bedeuten, die Schule zu wechseln.
Ist das nicht heuchlerisch? Sie propagieren Integration und Zusammenleben, aber wenn es konkret wird, handeln Sie anders.
Ein Schulwechsel hat nicht zwangsläufig zur Folge auch umzuziehen. Tatsächlich hängt der Wegzug von Menschen doch nicht allein von Aspekten wie Sprache ab, sondern auch mit sozialen Fragen zusammen. Wer aufsteigt, will vielleicht auch besser wohnen. Warum sollte das bei Migranten anders sein? Wer nicht mehr in die alte Heimat zurückkehren will, sieht sich hier nach Wohneigentum um ...
... also überlassen wir die Brennpunktviertel endgültig den Armen?
Auf keinen Fall. Man muss darauf achten, dass diese Stadtviertel auch für auftstrebende Schichten attraktiv bleiben, dass sich ein Mittelstand herausbildet. Selbst wenn ich Eltern nicht abraten kann, ihr Kind auf eine andere Schule zu schicken, so muss die Politik alles dafür tun, dass dies nicht geschieht: Gerade in Gegenden, die Ghettos zu werden drohen, brauchen wir die besten Schulen. Die bilingualen Berliner Europaschulen sind hierfür ein gutes Beispiel.
Aber, Herr Özdemir, davon sind wir weit entfernt. In Berlin gab es beispielsweise längst Europaschulen, ehe die türkische Gemeinde endlich eine deutsch-türkische durchsetzen konnte. Heute findet sich eine Europaschule, in der Deutsch und Türkisch Unterrichtssprache ist – obwohl wir mindestens 50 bräuchten.
Ich weise doch gerade auf ebendiesen Kardinalfehler der bisherigen Integrationspolitik hin. Wir sollten diese Frage nicht auf Schulen allein reduzieren: Sprache – und hier die der Mehrheitsgesellschaft – ist eine Schlüsselqualifikation. Bereits den Kindergärten kommt beim Erlernen der Sprache – und dies beleibe nicht nur für Migranten- und Flüchtlingsfamilien – eine regelrechte Startfunktion zu.
Das Beispiel Kreuzberg zeigt, dass Deutsche wegziehen, weil sie ihre Kinder nicht auf Schulen schicken wollen, in denen 90 Prozent der Kinder türkisch sprechen. Da sind Leute dabei, denen Multikulti mal wichtig war – theoretisch. Jetzt hält sie auch kein ansprechendes soziales Umfeld mehr auf.
Ich finde, wir sollten unterscheiden zwischen der Bewertung von Entscheidungen, wie jemand kurzfristig für sich oder sein Kind ein Problem löst – und deren sozialen bzw. gesellschaftlichen Ursachen. Hier ist die Politik gefragt. Ich verteile keine Noten für persönliches Handeln. Der niederländische Minister für Integration und Stadtentwicklung hat übrigens erst kürzlich einigen Bundestagsabgeordneten hierzu die passende Frage gestellt.
Und die war?
Er fragte uns: Worum geht es euch tatsächlich, dass in Kreuzberg mehr Türken leben – oder dass es dort mehr Arbeitslose gibt als andernorts in Berlin? Wenn Ersteres euer Problem ist, dann tut es mir Leid – das ist Rassismus. Was mich, Cem Özdemir, an der Debatte der vergangenen Monate wirklich geärgert hat, ist, dass ebendiese soziale Dimension von Einwanderung und Integration zu wenig beachtet wird.
Viele Zuwanderer werden Sie nicht erreichen. Die wollen hier bleiben und kapseln sich ganz selbstbewusst ab.
Dass es das gibt, ist gar nicht zu bestreiten. Islamistische – insbesondere auch türkisch-nationalistische – Kreise fördern derartige Tendenzen ganz systematisch. Aber ich finde, man muss hier sehr genau differenzieren. Zum einen darf man das Ausmaß derartiger Prozesse nicht dramatisieren: Nicht alles, was einem fremd vorkommt, kann über diesen Kamm barbiert werden. Und zum anderen muss sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft auch nach ihrem eigenen Anteil an dieser Entwicklung fragen lassen: Wenn einem über Jahre vermittelt wird, man sei hier nicht erwünscht, dann darf man sich nicht wundern, wenn diese Person sich zurückzieht und sich von dieser Gesellschaft abwendet.
Alle Welt redet von den Bildungsdefiziten der zweiten und dritten Migrantengeneration. Sie aber gehören zur Elite dieses Landes. Wie war das bei Ihnen?
Meine Mutter kommt aus Istanbul, einer Stadt, in der man Griechisch, Armenisch und Türkisch sprach, wo alle Religionen versammelt waren. Mein Vater hingegen hatte nur drei Jahre die Grundschule besucht. Hier waren meine Eltern den ganzen Tag arbeiten, da gab es anfangs wenig Zeit zur Hilfe. Ich habe bis zur vierten Klasse eine Fünf in Deutsch gehabt.
Musste man den frechen Schüler Özdemir zum Deutschpauken verpflichten?
Schnell reden konnte ich damals schon, nur im Schriftlichen haperte es. Also haben mir meine Eltern Nachhilfe bezahlt. Das hat mir den Sprung von der Haupt- in die Realschule ermöglicht. In der Fünften habe ich dann mein erstes Buch in Händen gehalten – und von da an kräftig aufgeholt.
Welchen Stellenwert hat Bildung in Familien türkischer Herkunft?
Vereinfacht könnte man sagen: Wer vom Lande kommt, gibt weniger Acht auf Bildung. Bloß hilft diese grobschlächtige Sicht auf die türkische Gemeinde hier nicht weiter. Unter der alevitischen Minderheit etwa ist Bildung, auch für Mädchen, ein hohes Gut.
Die Fakten sind ernüchternd: 70 Prozent aller jungen Berliner Deutschtürken erringen keinen Ausbildungsabschluss.
Das hängt auch daran, dass in sehr vielen Familien Druck ausgeübt wird, so schnell wie möglich für den Familienbetrieb oder fürs Geldverdienen zur Verfügung zu stehen.
Loben die türkischen Unternehmerverbände deswegen den hohen Anteil der Selbständigen?
Die Selbständigkeit ist, leider, für manche Migranten mit Selbstausbeutung verbunden. Bildung wird vernachlässigt, die Kinder werden zur Mitarbeit angehalten. Unser generelles Problem ist, dass daraus ein wirklichkeitsfremdes Bild von den Türken hier konstruiert wird. Die einen machen sie zu Halbbarbaren, die anderen dichten ihnen Traumkarrieren an.
In Wahrheit gibt es nicht sehr viele mit der Erfolgsgeschichte eines Cem Özdemir.
Aber wir werden immer mehr. In der Jury der Berliner Filmfestspiele saß Fatih Akin, im Fernsehen geht ein Kommissar türkischer Herkunft auf Verbrecherjagd. Das sind wichtige Vorbilder, die in die manchmal etwas passive türkische Gemeinde hineinwirken. In den USA hat man das unter dem Begriff „mentoring“ regelrecht zum Programm gemacht.
Bei den türkischen Vereinen und Gemeinden hier ist das noch nicht angekommen.
Ja, mancher Vorsitzende ist doch noch sehr mit seinem Heimatstaat beschäftigt. Nichts gegen Engagement für die Türkei. Aber es wäre schön, wenn sich diese Leute im gleichen Maße für Bildung und Aufstieg hier einsetzen würden.
Was kann man tun? Mit Fernsehen und Satellitenschüssel wird aus jedem Haushalt eine kleine Türkei.
Der türkische Staat muss sich klar werden, dass auch er seinen Beitrag leisten muss. Er sollte über diesen Kanal die Auslandstürken ermuntern, ihren Kindern eine ordentliche Schulbildung zu bieten.
Die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John klagt, dass auch Frauen aus der dritten Einwanderergeneration mit ihren Kindern noch mehr türkisch als deutsch reden.
Das stimmt leider manchmal. Was wir bräuchten, ist eine doppelte Bildungsoffensive – eine, die den zugewanderten Familien klar macht, dass nur eine gute Qualifikation in diese Gesellschaft hineinführt. Und eine, die endlich die unsichtbaren Schranken im Bildungswesen beiseite räumt, die Deutschtürken den Weg versperren. Mein Vorbild dafür sind da die Bemühungen sozialdemokratischer Bildungspolitik in den 60er- und 70er-Jahren. Die hat den Missstand beseitigt, dass in den 50er Jahren nur 5 Prozent der Arbeiterkinder Hochschulen besuchten.
Damals klagte die Wirtschaft über einen Mangel an gut Ausgebildeten. Heute ist es ähnlich – 250.000 Akademiker fehlen dem Arbeitsmarkt in den nächsten zehn Jahren. Können die Kinder türkischer ImmigrantInnen irgendwann einmal in diese Lücke stoßen?
Wenn wir alle mit angreifen, ja. Wir müssen ein Netz spannen, das die türkischen Vereine und Prominenten genauso miteinbezieht wie Universitäten und Lehrer. Meine Vision ist, dass wir in fünf oder zehn Jahren endlich mehr Akademiker haben, die von Migranten abstammen.
Denken Sie dabei auch an Quoten? Sollten die Universitäten sich verpflichten, gemäß dem Bevölkerungsanteil der Türken in Deutschland 5 Prozent ihrer Studienanfänger-Plätze für Migranten aus der Türkei bereitzustellen?
Mein Reflex sagt: Ja. Einerseits. Andererseits befürchte ich, dass eine Quote die Migrantenstudenten in ein schiefes Licht rückt. Marke: Seht her, das ist unser Quotentürke. Ich schwanke da, die Frauenquote hat ja auch beides gebracht – Erfolge wie Vorurteile. Was ich auf keinen Fall will, ist eine Art Helfersyndrom.
Wie meinen Sie das?
Wenn, dann muss eine entsprechende Forderung aus den Reihen der Betroffenen selber kommen. Ich bemühe mich gerade, die Studentenverbände der Migranten in diese Diskussion miteinzubeziehen. So weit sind wir noch nicht. Bis dahin brauchen wir die Hilfe von Verbänden und der Wirtschaft: Wir brauchen Geld, um Stipendien zu finanzieren und Mentoren zu gewinnen. Das kann dauern.
Finden Sie nicht, dass schon viel Zeit in der Integrationsdebatte verloren gegangen ist? Zu viel?
Mir scheint, wenn wir ehrlich sind, dass in der Bundesrepublik noch nicht jeder davon überzeugt ist, dass wir aus Migranten wirklich gleichberechtigte Bürger machen wollen.
Gilt das auch für Rot-Grün?
Ich verhehle gar nicht, dass auch unsere Seite das Thema Bildung und Migration erst vor kurzem entdeckt hat. Viele von uns dachten: In der dritten Generation löst sich das Problem irgendwie von selber. Tut es aber nicht.
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