: Der erfolgreiche Unterwanderer
Frankreichs Premierminister Lionel Jospin gesteht ein, früher Trotzkist gewesen zu sein
Jahrelang hat Lionel Jospin seine linksradikale Vergangenheit geleugnet, hat „Verwechslungen“ mit seinem Bruder Olivier unterstellt und frühere Genossen als „Zeugen, die sich irren“ beschrieben. Am Dienstag vollzog der französische Premierminister eine 180-Grad-Wende. „Oui“, beantwortete er plötzlich die Frage eines rechtsliberalen Abgeordneten, „ich hatte trotzkistische Ideen und Kontakte.“ Dann fügte er hinzu, dass die Gegenwart wichtiger sei. Heute, so Jospin, „bin ich ein sozialdemokratischer Reformist“.
Ehemalige Militante aus den trotzkistischen Splittergruppen tummeln sich zahlreich in der rot-rosa-grünen Regierung in Paris und in der Verwaltung des französischen Staates. Besonders häufig sind sie in den Reihen der PS. Die meisten von ihnen machen keinen Hehl aus ihrer Biografie und sind stolz auf ihre radikale Jugend in den 60ern. Nirgends – auch nicht bei Konservativen – stoßen sie deswegen auf Widerstand.
Jospin, der sich den Franzosen schon im Präsidentschaftswahlkampf 1995 als strenger Protestant und als „Politiker der Transparenz“ andiente und dies erst recht seit seinem Amtsantritt als Premierminister im Juni 1997 tut, verfuhr anders. Er bestritt alles über seine Jahre in der „Kommunistischen Internationalistischen Organisation“ (OCI) – einer ob ihrer autoritären Strukturen berüchtigten Trotzkistengruppe, die heute unter dem Namen „Parti des Travailleurs“ existiert. Dabei hat er seine Genossen von einst unterschätzt. Denn die verfolgten die spätere Karriere des früheren „Genossen Michel“, der in den 60er-Jahren die OCI-Kaderzelle im 20. Pariser Arrondissement anführte, aufmerksam. In ihren Anfängen hielten sie Jospins Aufstieg sogar für einen Erfolg ihrer Taktik der Unterwanderung von Gewerkschaften und Parteien. Als Jospin 1973 Chef der PS wurde, erfüllte das viele mit Genugtuung. Patrick Dierich, ebenfalls Ehemaliger der OCI, ist bis heute davon überzeugt, dass Jospins Aufstieg in der PS-Hierarchie eine trotzkistische Infiltration war.
Ein Jahr vor den Wahlen in Frankreich, bei denen der frühere Trotzkist Jospin Staatspräsident werden könnte, war das Geheimnis nicht länger zu halten: Die Medien recherchierten über Jospins Vergangenheit, immer mehr ehemalige Genossen packten über ihn aus, und die konservative Opposition sammelte Munition gegen ihn. Mit seinem späten Bekenntnis hat der Premierminister jetzt vielen von ihnen den Wind aus den Segeln genommen. Hinzu kommt, dass er den zahlreicher werdenden enttäuschten linken Franzosen, die damit drohen, im nächsten Jahr trotzkistisch zu wählen, signalisieren konnte: Dann könnt ihr gleich für mich stimmen.
Seinen alten Mentor freilich hat Jospin nicht überzeugt. Der heute 80-jährige Boris Fraenkel hat Jospin 1964 in den Trotzkismus eingeführt. Fraenkel, der in einer jüdischen Familie in Danzig zur Welt kam, gab Jospin Einzelkurse in seinem Häuschen in einer Vorstadt von Paris. Von dem brillianten Studenten der Eliteschule ENA versprach sich die OCI Informationen aus der Spitze des Staatsapparates. Es war „nicht schwer“, Jospin zum Trotzkisten zu machen, erinnert sich Fraenkel. Doch von dem heutigen Regierungschef ist der alte Mann, der ein Linksradikaler geblieben ist, bitter enttäuscht. „Er ist ein erbärmlicher Kerl“, sagt Fraenkel heute über Jospin.
DOROTHEA HAHN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen