: 50.000 Räder auf der Piste
Verbotenes reizt besonders, selbst wenn es einmal erlaubt ist. Die Stimmung unter den Teilnehmern der Fahrradsternfahrt ist im Autobahntunnel dann auch besonders gut. Die Forderung der Radler: die Rolle des Fahrrads im Verkehr zu stärken
von TILMAN STEFFEN
Sonntag, 11.45 Uhr. Die Autobahnauffahrt Grenzallee befindet sich im Belagerungszustand. „Bevor die Polizei nicht durch ist, geht hier gar nichts“, klärt ein Uniformierter die Fronten. Die Menge hat die Fahrräder bereits einige Meter die Asphaltpiste hoch zur Autobahn geschoben. Mütter, Väter, Kinder von fünf bis fünfzehn sind dabei, mit vorbildlich helmgeschützten Köpfen. Und die Freaks auf ihren Mountainbikes, sonnengebräunt, in hautenger Sportlerkluft und mit spacigem Helm. Dazwischen warten barttragende Überzeugungsradler in Regencapes, packen lockenhaarige Jungväter ihren Nachwuchs in gelbrote wind- und wassergeschützte Fahrradanhänger.
Sie alle folgen dem Aufruf des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC). Der hatte für den gestrigen Umwelttag zur Demonstration aufgerufen. Die Forderdung: die Rolle des Fahrrads gegenüber dem Autoverkehr zu stärken. Rund 50.000 Teilnehmer waren insgesamt auf den dreizehn Sternfahrtrouten unterwegs, schätzte später Clubsprecher Benno Koch.
An der Grenzalle dürfen nach der Polizei auch die Pedalritter los. Entlang den Leitplanken geht es in den Tunnel. Die Freaks erobern mit pfeifenden Reifen die Überholspur, Familien mit den Bambirad-Kids bleiben lieber rechts außen und bestaunen, was sie sonst nur aus den Autos heraus flüchtig wahrnehmen: Überwachungskameras, Notausgänge, SOS-Haltebuchten. Klingeln, Johlen, Jauchzen. Dreieinhalb Kilometer, weiß ein Steppke, führt die Route unter der Erde entlang. Zum Tunnelende steigt die Strecke an. „So könnte es gut bis nach Hamburg weitergehen“, meint eine junge Frau zu ihrem Begleiter. Doch an der Sachsenallee geht es wieder von der Piste herunter.
An der Auffahrt warten wenig begeisterte Autofahrer: Lutz Rink steht schon zehn Minuten mit seinem Kleinbus. Der Heizungsmonteur im Sonntagsdienst muss seine Kunden per Handy um Geduld bitten. Auch Gerd Walle ist sauer: „Kein Hinweis im Radio, wie weit die Staus reichen“, wettert er aus seinem Renault. Selbst der Bus 146 muss dran glauben. „Acht Minuten Verspätung schon jetzt“ sagt die Fahrerin, zurzeit ist die Stimmung gut im Fahrgastraum. Sie stehen noch lange, denn auf dem Sachsendamm treffen die Fahrerpulks von sechs weiteren Touren zusammen.
In der Stadt lässt die Polizeipräsenz nach, Beamte fehlen schließlich ganz: Auf der Bundesallee Ecke Spichernstraße kommt es zur Grundsatzdebatte, als Autofahrer ihre Pkws durch den Radlerstau drängeln. Ein älterer Tourbegleiter im orangefarbenen T-Shirt sucht den Kompromiss: „Gehen Sie doch einen Moment zur Seite“, beschwichtigt er die Pedalfundamentalisten. Enttäuschung auf den Gesichtern: „Die Demo ist unterbrochen“, klagt ein Bärtiger. Doch viele derer, die ihre Hintern heute mit dem Sattel strapazieren, sitzen morgen wieder im bequemen Polster ihres Wagens. Die Grünen wissen das und verteilten auch noch am Ziel Luftballons mit dem Slogan „Fahr Rad!“. Im Dauerregen fand die Sternfahrt beim Umweltfestival der Grünen Liga Unter den Linden ihr Ende.
Die Polizei sei beim Schutz der rund 500 Streckenkilometer an ihre Belastungsgrenze gekommen, resümierte dort ADFC-Sprecher Koch. Tatsächlich war die Straßensperrung in Teilen der City vollständig den 140 clubeigenen Sicherheitskräften überlassen.
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