: Die Experten klären auf
Die Menschenversuche in den Lagern waren keineswegs pseudowissenschaftliche Betätigungen, sondern Teil des regulären Wissenschaftsbetriebs: Die Max-Planck-Gesellschaft entschuldigt sich
von TOMAS FITZEL
Zum ersten Mal diskutierten Historiker und Überlebende der medizinischen Experimente in den Konzentrationslagern zwei Tage lang auf dem von der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ausgerichteten Symposium „Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten – Die Verbindung nach Auschwitz“. Als Nachfolgeorganisation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) stand die Max-Planck-Gesellschaft moralisch in der Pflicht. Viel zu lange hatte sie die Mitwirkung von Mitgliedern der KWG, die auch nach dem Krieg respektable Posten innerhalb der MPG bekleideten, an den Menschenversuchen der Nazis verdrängt. Die kritische Aufklärung kam wie immer von außen: Der Genetiker Benno Müller-Hill legte 1984 in seinem Buch „Tödliche Wissenschaft“ erstmals Beweise vor, die etwa die Verbindung des Nobelpreisträgers und langjährigen Präsidenten der MPG, Adolf Butenandt, zu den Experimenten Josef Mengeles belegten. Ernst Klee wiederholte die Vorwürfe vor einem Jahr in der Zeit. Er forderte Hubert Markl, den derzeitigen Präsidenten der MPG, auf, sich bei den Opfern zu entschuldigen, was dieser zunächst ablehnte.
Dann besann sich Markl jedoch und sprach zur großen Genugtuung der anwesenden Opfer bei der Eröffnung des Symposiums Ende letzter Woche eine offizielle Entschuldigung aus – nicht nur für die Mitschuld der KWG, sondern auch für das Schweigen der MPG. Man hätte sich allerdings gewünscht, dass der Präsident hier konkreter würde und Ross und Reiter benannt hätte.
Die wohl wichtigste Erkenntnis sprach auf der anschließenden Pressekonferenz Eva Mozes Kor aus, eine Überlebende von Mengeles Forschung mit Zwillingspaaren: Erstmals würde anerkannt, dass die Menschenversuche in den Lagern keineswegs pseudowissenschaftliche Betätigungen waren, sondern Teil des regulären Wissenschaftsbetriebes. Bis sich diese Erkenntnis jedoch in der MPG durchsetzt, nicht nur als intellektuell begriffene, sondern als in der Auseinandersetzung mit der eigenen, heutigen Tätigkeit wirklich erfahrene, das wird noch lange dauern, auch bei Markl. Die Dämonisierung Mengeles als „Todesengel von Auschwitz“ besaß vor allem entlastende Funktion. Die echte und wahre Wissenschaft musste rein geblieben sein. An der Durchsetzung dieser Interpretation in der Nachkriegszeit war vor allem Adolf Butenandt beteiligt, seit 1936 Leiter des KW-Instituts für Biochemie und führender Wissenschaftler in der Gen- und Hormonforschung. Obwohl selbst weder Antisemit noch überzeugter Nationalsozialist, stellte er seinen Kollegen bedenkenlos „Persilscheine“ aus. So dem Leiter des benachbarten Instituts für Anthropologie, einer Schaltzentrale in der Entwicklung der rassistischen Ideologie, Otmar Freiherr von Verschuer. Verschuer konnte so seine akademische Laufbahn ungehindert fortsetzen. Mengele war wiederum Verschuers Assistent und belieferte die Institute in Dahlem mit menschlichen Präparaten. Aus den Lieferscheinen konnte sich gar kein Zweifel ergeben, woher und auf welche Weise diese gewonnen wurden. Ein Projekt des Butenandt-Mitarbeiters Günther Hillmanns widmete sich etwa der Ermittlung „spezifischer Eiweißkörper“, um genetisch bedingte Abwehrkräfte nachzuweisen. Auch Karin Magnussens grausig bizarr anmutende Untersuchungen an Augäpfeln besaßen ihre wissenschaftliche Begründung in der Hormonforschung. Sie alle waren, einschließlich Mengele, als hochqualifizierte Wissenschaftler und Ärzte an modernster Forschung beteiligt, nur dass ihre Versuchsanordnungen Auschwitz mit einschlossen. Es mangelte ihnen nicht der „sense of morality“, sondern der „sense of reality“, schreibt Klaus Dörner in „Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen“. Die ethische Pflicht kollidierte mit der Expertenpflicht zum Nachteil Ersterer.
Natürlich hätte man das alles längst wissen können. Wie Paul Weindling, Medizinhistoriker aus Oxford, in seinem Vortrag zeigte, war man bereits unmittelbar nach dem Krieg über die genauen Zusammenhänge bestens informiert. Möglich war dies, weil besonders die Überlebenden in Eigeninitiative sehr schnell Berichte gesammelt hatten. Sie waren es auch, die dem Symposium zu einem Erfolg verhalfen. Es war für sie nicht einfach, nach Berlin zu kommen. Aber endlich die Wahrheit zu erfahren, was man mit ihnen genau angestellt hatte, ist für sie von existenzieller Bedeutung. Für Eva Mozes Kor bedeutete die Begegnung und Aussprache mit Hans Münch vor einigen Jahren, dass sie sich endlich nicht mehr als Gefangene ihrer Vergangenheit fühlte – obwohl Mengeles Assistent in dieser Aussprache nur taktierte.
Wie Hubert Markl meinte, der sich als Biologe für inkompetent erklärte, muss es der seit 1997, zum 50. Gründungstag der MPG, eingesetzten Historikerkommission überlassen bleiben, als „Experten“ die MPG über die Wahrheit aufzuklären. Aus Gründen handfester Interessen, denn im internationalen Vergleich besitzt die MPG einen entscheidenden Wettbewerbsnachteil: ihre Vergangenheit. Das Image kann heute aber entscheidend sein. Gerade jetzt, wo es in der Debatte um Gen- und Biotechnologie um einen grundlegenden Durchbruch geht, kann man sich nicht völlig ignorant vor der KWG-Problematik drücken. Weitere Konsequenzen aus der Entschuldigung Markls wollte man aber noch nicht ziehen, etwa wie konkret den noch lebenden Opfern geholfen werden kann, die an vielen physischen und psychischen Folgeerkrankungen leiden. Geld ist nicht alles. Die MPG verfügt über enormes Expertenwissen, das sie hier zum Nutzen beider einsetzen könnte. Vielleicht begreift man, dass auch dies gut fürs Image sein könnte.
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