piwik no script img

Unsicherheit als Bürgertugend

Die grundsätzliche Nichtbegründbarkeit von Normativität: Thorsten Bonacker „Die normative Kraft der Kontingenz“

Das Unheimliche an den Biowissenschaften liegt auch in ihrer Schnelligkeit. Beinah täglich gibt es neue Erfolgsmeldungen von der Wissenschaftsfront. Ob Klonierung von Pflanzen, Tieren oder Menschen, ob Präimplantationsdiagnostik, ob mögliche Züchtung einzelner Organe zu Transplantationszwecken: In jedem Fall geht es darum, Grenzen zu überschreiten, die bislang den Rahmen für das innerhalb unserer Kultur technisch und politisch Zulässige definiert hatten. Jenseits dieser Grenzen aber existieren nur noch vage Maßstäbe, nach denen man ein bestimmtes Handeln als verwerflich oder als legitim bezeichnen könnte.

Schon was überhaupt Leben ist, ist wissenschaftlich nicht eindeutig beantwortbar. Die Biowissenschaften häufen Wissen um Wissen auf, aber darüber erschüttern sie ein spezifisches Wissen, das vorrangig kulturell beschaffen ist: das Wissen darum, was ein Mensch ist, was die Grenzen des Menschlichen sind und wie die normativen Kriterien aussehen, mit einer solchen Überschreitung der Conditio humana umzugehen. Das Unheimliche und deshalb auch das Beständige an der Diskussion um die Biotechnologie liegt darin, dass gültige Maßstäbe einer normativen, einer ethischen Beurteilung dieser Technologien, ihrer möglichen Folgen und Implikationen fehlen, dass aber kein politisches Handeln unabhängig vom Standard dieser Technologien selbst geschehen kann.

Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, ob es grundsätzlich notwendig ist, klare und distinkte Maßstäbe für das politische, gesellschaftliche Urteilen und Handeln zu besitzen. Ist es nicht auch möglich, ein Problem in seinem augenblicklichen Kontext zu beurteilen, ohne dass das zwangsläufig in Kritiklosigkeit münden muss? Einen originellen Ansatz für einen Weg aus diesem Dilemma hat der Marburger Soziologe Thorsten Bonacker eingeschlagen. Er möchte Kontingenz zum Kernelement von Normativität machen. Das scheint zunächst paradox, weil gerade Normen für sich immer eine unverrückbare Geltung beanspruchen. Nun aber soll es die grundsätzliche Nichtbegründbarkeit von Normativität, ihre strikte Verortung in einem spezifischen historischen und sozialen Kontext, sein, die Normativität auszeichnet. Was zunächst den Anschein erweckt, als wolle sich hier ein Normativitätsmünchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Begründungsfalle normativen Urteilens ziehen, hat einiges für sich. Denn deutlich wird daran vor allem der Zeitkern von Normativität, die selbst einer beständigen Transformation unterworfen ist. Die „Abenteuer des Zusammenlebens“, wie Tzvetan Todorov das einmal genannt hat, bestehen aus Regeln, deren Kanon immer aufs Neue definiert werden muss. Unsicherheit wird zur Bürgertugend, weil durch sie Reflexivität bei den Einzelnen gefordert ist. Das würde bedeuten, das man bei der Biowissenschaften nicht nur fragt, wer eigentlich der Mensch ist, der vor einem eventuellen Missbrauch geschützt werden soll. Die Frage müsste vor allem darauf ausgehen, was an bisherigen Standards verschoben wird, ob das akzeptabel sein kann und welche Interessen hinter einer solchen Bewegung stehen.

Der gesellschaftliche Kontext kann sich nun immer verändern – und mit ihm das normative Set, das von Gesetzen bis hin zu Alltagsgesten in ihm als gültig akzeptiert wird. Normativität kann sich daher niemals auf einen unbedingten Grund ihrer Legitimation berufen, sondern immer nur auf die sozialen Umstände ihrer Entstehungsgeschichte, die auch ganz anders hätte verlaufen können. Das macht schließlich auch die Institutionen und die ihnen verbundenen, handelnden Subjekte flexibler. Denn es bedeutet, dass die Erstellung von Standards und Kriterien zur sozialen Urteilsfähigkeit wie zum politischen Handeln eine permanente Anstrengung der handelnden Subjekte sein muss.

Aus der historisch/sozialen Genese von Normativität macht Bonacker also kurzerhand einen tragfähigen Ausgangspunkt für ein normatives Engagement. Daraus ergibt sich eine permanente Verpflichtung zum (Be-) Urteilen, zur Reflexion und zur Überprüfung des eigenen Standpunkts. Bonackers Buch handelt absolut nicht von Bioethik. Sein Ansatz einer kontingent gewonnenen Normativität könnte aber gerade hier ein erfolversprechendes Anwendungsfeld finden. Denn gerade was an den Biowissenschaften heute unheimlich erscheint, ist im Horizont einer solchen Kontingenz das Normalste von der Welt: Die gültigen kulturellen Grenzen verschieben sich sowieso ständig. Deshalb muss man die technologischen Entwicklungen noch lange nicht gutheißen. Aber nur was nicht länger unheimlich wirkt, ist der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung zugänglich. Mündigkeit als Versprechen, wie Bonacker in Anlehnung an Adorno sagt, ist die Perspektive seines Ansatzes. Denn auch wo die grundsätzliche Unbegründbarkeit jeder Normativität erkannt ist, könne auf Begründung nicht verzichtet werden.

Alles in allem ist das ein angenehm nüchterner, unaufgeregter Ansatz im gängigen Konzert der Moralapostel. Wahrscheinlich ist er darin bloß leider Gottes eine zu anspruchsvolle Stimme. Und wahrscheinlich muss Bonacker gerade deshalb auch höllisch aufpassen, dass er nicht unter der Hand seine eigene Kategorie der Unbegründbarkeit – die Kontingenz – zur unanfechtbaren Begründungsvokabel macht. Denn wo alles kontingent ist und sich damit legitimiert, muss womöglich bald nichts mehr gerechtfertigt werden. Dann hätte Bonacker das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, und das wäre schade. Schließlich dürfte gerade die Kontingenz der Umstände, in denen wir leben, für einen heftigen Streit der Meinungen, weniger für Fatalismus sorgen. JÖRN AHRENS

Thorsten Bonacker: „Die normative Kraft der Kontingenz. Nichtessentialistische Gesellschaftskritik nach Weber und Adorno“, Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 306 Seiten, 78 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen