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Vom Nutzen des Skandals

Wir erregen uns.

Nachhaltig? Nein, eher kurzzeitig; aber dafür umso intensiver, kollektiver und nachdrücklicher. Die Schärfe der Erregung scheint von der Natur ihres Gegenstandes zu rühren, außerdem von der empfindlichen Natur unserer Moral. Es ist doch ein ausgemachter Skandal, was da vorgeht, in Bonn und Berlin! Und wer wären wir, wenn wir ihn schweigend ertrügen! Nein – wir können gar nicht anders als uns empören, protestieren und die schärfsten Konsequenzen fordern.

Ich bin nicht dieser Ansicht. Die „Natur“ des Menschen und mit ihr seine Moral sind wesentlich seine Erfindung. Sie unterliegen dem Wandel, um nicht zu sagen: der Mode. Was sich jetzt überall natürliche Erregung nennt, ist vielmehr Begleiterscheinung, vielleicht sogar Konstituens eines tief greifenden Wandels unserer politischen Kultur. Ich will das im Folgenden zu erklären versuchen.

Als nach den Bundestagswahlen vom September 1998 eine Koalition aus SPD und Bündnis 90/ Die Grünen Regierungsverantwortung übernahm, brachen innerhalb sehr kurzer Zeit etliche (meist nichtkodifizierte) Regelsysteme zusammen, an denen sich mehrere Jahrzehnte lang das Handeln der politisch Aktiven orientiert und nach denen sich ihr Selbstverständnis geformt hatte.

Das heißt: Es änderte sich nicht bloß die Tendenz, wie dies zuvor schon mehrmals geschehen war, wenn eine eher christlichsozial ausgerichtete Regierung einer eher sozialdemokratischen weichen musste (oder umgekehrt) – nein! Seit dem September 1998 ist vielmehr eine Auflösung des traditionell Politischen schlechthin zu beobachten, eine Auflösung, die streckenweise die Züge eines Verfalls trägt, dabei aber als Verfallserscheinung nur sehr unzureichend, ja wahrscheinlich sogar unangemessen beschrieben wäre. Besser, wenngleich sehr schweren Herzens, ist wohl von einer Metamorphose zu sprechen, die das Politische momentan durchläuft. Deren Motor wie ihr prominentestes Ausdrucksmittel aber ist: der Skandal.

Nun hat Politik immer schon skandalöse Ereignisse gekannt – wie sollte es auch anders sein, wenn Menschen Macht haben? – aber seit dem September 1998 ist das politische Leben in Deutschland durch und durch skandalförmig geworden; alles Wesentliche geschieht nach den Regeln der größtmöglichen Verfehlung und der größtmöglichen Empörung darüber. Traditionell verstanden, lässt ein solcher Befund nun das Schlimmste erwarten; denn der Skandal gründet im Emotionalen, seine Regentschaft lässt auf Niedergang, Endzeit, ja vielleicht sogar Untergang der im Rationalen gründenden Demokratie schließen. Doch tatsächlich geht die Entwicklung in eine andere Richtung. Denn die Skandale der neuen Prägung beenden zwar oftmals, so wie sie das auch früher taten, individuelle Karrieren oder gar Lebenswege, aber weder im Einzelfall noch erst recht in der Summe beschädigen sie die momentane Regierung! Sie tragen vielmehr im Gegenteil die Hauptlast ihrer politischen Autorität; krass gesagt: Die Regierung des Kanzlers Gerhard Schröder hält sich gerade mit Hilfe der dauernden Skandale im Amt, ja sie verstärkt dadurch ihre allgemeine Akzeptanz.

Und wie reagierte die Öffentlichkeit auf die Regierungsübernahme durch den Skandal? Mit dem Gefühl eines angenehmen Schauderns, das heißt: mit Ambivalenz. Denn einerseits erschüttert jeder Skandal das Ganze, sprich also etwa den Glauben an die bürgerliche Integrität der CDU oder an die Arbeitnehmertreue der SPD oder an die strikte Alternativität der Grünen; darüber hinaus schadet er möglicherweise sogar dem Ansehen des ganzen Staates. Doch ziemlich schnell wuchs die Akzeptanz für den Skandal, signalisiert (besser: suggeriert) er doch dem Bürger, es handele sich bei seinem Gegenstand um eine und nur eine Störung der Ordnung, die genau benannt, an bestimmten Personen festgemacht und daher durch bestimmte, zum Beispiel juristische Verfahren aufgehoben, deren Verursacher bestraft und deren Opfer entschädigt werden können. Der Skandal lässt sich erzählen, entwickeln, verhandeln, aufführen, mitschreiben und abfilmen, er hat, ja er ist die „bessere Story“.

Nun aber wird es, so das neue Lieblingswort der Nation: spannend. Denn spannend – wie ein Kriminalroman, wie eine Schicksalstragödie, wie ein Beziehungsdrama – ist das politische Leben in Deutschland (und mit ihm das öffentliche überhaupt) geworden. Das heißt: Einige Jahrezehnte lang verstand sich die Politik als Realisation abstrakter Konzepte (wie etwa des Godesberger Programms der SPD), während dementsprechend die Medien den Anspruch einer objektiven und sachbezogenen Berichterstattung zumindest in ihren Selbstverpflichtungen aufrechterhielten. Nun aber gehen eine radikale Individualisierung der Politik im Skandal und die alte, wenngleich stets bereite Sucht der Medien nach der guten Story eine wenngleich lautstark-aggressive, so doch für beide Teile lukrative Allianz ein.

Lukrativ besonders für die Regierung Schröder. Dabei war der Skandal als Regierungsmittel nicht ihre Erfindung, er wurde ihr vielmehr von den Medien zum Einstand als Geschenk gereicht. Die Mannschaft Schröder hat den Skandal vielleicht nicht gewollt, aber sie brauchte ihn dringend, denn sofort nach der Regierungsübernahme musste sie mit Schrecken feststellen, dass die Verhältnisse im Staat noch wesentlich unbeweglicher waren, als sie es in ihren eigenen Oppositionsreden immer wieder kritisiert hatte.

In diese frühe Panikphase der Regierung fielen nun die ersten Skandale, die sich aus der Erosion alter Strukturen ergaben. Und während eine noch eher konventionell reagierende Öffentlichkeit daran das baldige Ende der rot-grünen Regierung ablesen wollte, begann diese – oder wahrscheinlich nur der Kanzler selbst! – zu begreifen, dass in Struktur und Wesen des Skandals eine neue Erscheinungsform des Politischen begründet liegt; mehr noch: dass eine konsequente Politik des Skandals aller Wahrscheinlichkeit nach die einzige Möglichkeit darstellt überhaupt zu regieren, also eine felsenfest gefügte Gesellschaft zumindest partiell erkennbar zu verändern.

Mit dem Skandal um die Demission des Parteichefs, Chefideologen und Superministers Oskar Lafontaine gelang dies zum ersten Mal, wenngleich quasi durch einen glücklichen Zufall.

Das hat dem Kanzler gefallen! Mehr noch: Das hat dem Kanzler Gerhard Schröder den Weg zur Politik der Zukunft gewiesen. Denn wenn, so seine Einsicht, jene Politik traditioneller Prägung, die sich aus Grundsätzen und entlang von Leitlinien entwickelte, in einer Zeit innerstaatlicher Zwangsbalance und Hegemonie des Globalen nicht mehr möglich ist, dann kann vielleicht eine Politik des Skandals an ihre Stelle treten. Wie die nun funktioniert, sei an einem Beispiel erläutert, das im Moment, da dieser Text geschrieben wird, aktuell ist und es bei seiner Veröffentlichung womöglich schon nicht mehr sein wird.

Ausgangspunkt ist der: Die momentane deutsche Landwirtschaft ist ein Überbleibsel einerseits aus einer weit zurückliegenden agrarischen Kultur und andererseits aus dem Betätigungsfeld des weiland Arbeiter- und Bauernstaates DDR. Sie spielt keine kulturelle Rolle mehr, ihre ökonomische ist nicht bedeutend. Gerne würde jede deutsche Regierung sich daher der Landwirtschaft alter und ältester Prägung als bettelndes Sorgenkind sowie als Träger überkommenen Ideengutes entledigen, aber das lassen die nationalen wie die europäischen Verhältnisse nicht zu. Daher taten die letzten Regierungen dann auch nicht mehr, als einen irgendwie Agrarfreundlichkeit verströmenden Ressortminister ins Kabinett zu holen, der anschließend sein Klientel mal vertröstete und mal päppelte. Dergestalt verfuhr auch Schröder, und alles ging weiter wie bisher.

Nun grassiert plötzlich in den Rinderbeständen Europas eine vorerst unheilbare Krankheit, deren Erregerstoffe sich (wahrscheinlich) auf Menschen übertragen und dort (wahrscheinlich) eine unheilbare Krankheit zur Folge haben. An dieser Krankheit sind zwar bislang in Europa weniger Menschen gestorben als in einer einzigen normalen Woche bei Unfällen im normalen Straßenverkehr – aber als Auslöser eines Skandals ist diese Rinderkrankheit durchaus in der Lage, nicht weniger als eine weit reichende Revision der Agrarpolitik einzuleiten und durchzusetzen. Binnen weniger Tage wird das altehrwürdige Landwirtschaftsministerium in eines für Verbraucherschutz umgewidmet; der neue Minister ist zum ersten Mal in der Geschichte dieses Residuums patriarchalischen Denkens eine Frau, zudem Mitglied einer ökologisch und damit agrarkritisch ausgerichteten Partei; und endlich stimmen unter dem Druck der Umstände alle Beteiligten einer Trendwende zu, in deren Folge die alte Restlandwirtschaft sich weg von der Industrialisierung und hin zur Herstellung von High-Öko-Markenprodukten wenden soll!

Warum aber scheint, was die Ausmaße eines Jahrhundertprojektes hat, so schnell und glatt zu gelingen? – Weil nach der Dramaturgie des Skandals nicht die politische Absicht das Verfahren regiert, sondern vielmehr: die Frage nach der individuellen Schuld, der Zwang zum sofortigen Handeln und die Verpflichtung zu besonders strengen und weit reichenden Maßnahmen als erkennbare Sühneleistung für vorangegangene Versäumnisse oder Verfehlungen. Politik unter dem Skandal ist nicht der Streit um Konzepte, der sich immer langwierig gestaltet, sie funktioniert vielmehr nach einem Reiz-Reaktions- Schema, in dem nicht Gemessenheit, sondern Geschwindigkeit die wichtigste Komponente ist.

Was nun noch folgt, ist schier dialektisch. Denn Resultat jener politisch (ebenso wie von den Medien!) gewollten und also inszenierten Erscheinung des Politischen als Skandal ist: ein Gewinn an Autorität! Diese neue Autorität rührt nicht wie die alte aus einem regelmäßigen, aber eher seltenen Wählervotum, sie speist sich vielmehr täglich aus dem Druck der medial bewegten Massen! Das Unerhörte des Skandals entfacht notwendig den Sturm der Entrüstung; und wenn sie sich von ihm erkennbar davontragen lassen, können die Regierenden sicher sein, dass jede ihrer Maßnahmen und jedes ihrer Ziele die Zustimmung der Massen finden. Der Skandal wird so gewissermaßen zum Modus einer neuen Form der plebiszitären Demokratie, in der nicht mehr mittel- bis langfristig über die Herrschaft abstrakter Konzepte, sondern ad hoc über konkrete Maßnahmen entschieden wird.

Und – ist dies nicht, alles in allem genommen, was wir immer gewollt haben? Absolute Kontrolle der Regierungsgewalt. Unmittelbare Mitsprache in allen wichtigen Angelegenheiten. Die Verpflichtung der Regierenden auf ihre ganz persönliche Verantwortung nebst deren sofortiger Einforderung im Falle des Versagens. Herrschaft strenger moralischer Maßstäbe im öffentlichen Leben.

Die Aufzählung kann sicher fortgeführt werden – aber ich weiß, dass manch einer in Sachen Herrschaft des Skandals ausgesprochen skeptisch ist, ja dass ihn jedes Plädoyer für den Skandal zutiefst verletzt. Und ich verstehe das!

Denn irgendwie hatte man sich die Ergebnisse einer weiter vorangetriebenen Demokratisierung unserer Gesellschaft doch anders vorgestellt. Irgendwie seriöser, würdiger, vielleicht sogar: intelligenter. Wie gesagt: Ich verstehe das.

Doch einmal – und so lautstark! – gerufen, werden sich die Geister des totalen Plebiszits nicht rasch wieder verziehen, bloß weil ihre Manieren nicht vollständig konvenieren, bzw. weil sie sich benehmen wie die Axt im Walde. Selbst unser Außenminister hat sich auf seinen Frankfurter Barrikaden der 68er-Jahre sicher nicht annähernd vorstellen können, wie weitgehend einmal eine Putztruppen-Mentalität die politische Kultur Deutschlands beherrschen wird. Und zur gleichen 68er-Zeit wird auch jener Oberprimaner in Hamm kaum geahnt haben, wie sehr einmal seine eigenen politischen Auftritte als Generalsekretär der CDU denen der Barrikadenbauer außerhalb der Mauern seines humanistischen Gymnasiums ähneln werden. Keiner aus der Generation der heute Tonangebenden hat ahnen und keiner hat wirklich wollen können, dass der endgültige Ausdruck ihrer Utopien eine bestenfalls pubertäre, besserwisserische und klatschsüchtige, schlimmstenfalls aber von Hysterie, Neid und Destruktionswillen geprägte Politkultur sein wird.

Die aber haben wir jetzt. Sie regiert die Aktiven – und die regieren vermittels ihrer: indem der Kanzler jedem politischen Problem und jeder politischen Aktion einen Minister opfert – indem die Oppositionsführung ihre Chefdenker wechselt wie Werbeagenturen – indem eine ehemalige Nachrichtensprecherin zur Pythia und Pallas Athene der deutschen Tagespolitik und ihr Debattierklübchen gleich nach dem Tatort-Krimi zum eigentlichen Kabinett wird – und schließlich: indem eine Öffentlichkeit, deren eigene Moralmarge sich knapp oberhalb des Big-Brother-Niveaus befindet, ihre Politiker mit einer Rigorosität und einer Finesse examiniert wie der Advocatus Diaboli einen Kandidaten für die Seligsprechung. Und noch einmal:Ja, ich weiß, man kann das alles – Pardon – durchaus zum Kotzen finden!

Aber WIR haben diese Politkultur, WIR haben sie vorbereitet, zugelassen oder gar begrüßt. Und daher sind WIR – wie üblich – gezwungen, auch noch das Beste aus ihr zu machen.

Die ungekürzte Fassung dieses Essays ist greifbar in der heute erscheinenden Ausgabe der Literaturzeitschrift Akzente. Herausgegeben von Norbert Niemann und Georg M. Oswald, sammelt sie Blickweisen deutschsprachiger Autoren auf die, so das Editorial, „politischen Problem- und Konfliktzonen in der gegenwärtigen Gesellschaft“.

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