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Beim Internationalen Literaturfestival wurde die „Berliner Anthologie“ vorgestellt: „Die Welt über dem Wasserspiegel“ ohne Hauptstadt-Hype
von JANA SITTNICK
Gemeinhin ist die Rezeption von Literatur ein unscheinbarer, wenig öffentlicher und zugleich äußerst sinnlicher Vorgang: Man liest in abgeschiedener Ruhe von der Welt, allein mit sich und dem fremden Werk. Man hält das Buch zwischen den Händen, schlägt es auf, blättert die Seiten um, spürt den Geruch des Papiers in der Nase. Das ist erotisch. Ulrich Schreiber, Leiter des Internationalen Literaturfestivals Berlin, scheint sich mit der Erotik des Lesens auszukennen, jedenfalls ist die von ihm herausgegebene „Berliner Anthologie“ ein schönes, gelungenes Buch, man wird es lesen wollen, wenn es demnächst auf dem Markt erscheint. Zum einen wegen einer ausgeklügelten editorische Idee, die diese x-te Berlin-Anthologie von ihren zahlreichen Vorgängerinnen unterscheidet. Zum anderen wegen der elegant-verhaltenen Gestaltung, die die einzelnen poetischen Texte so platziert, dass sie sich auf einer Papierseite entfalten können.
Am Freitag stellten Schreiber und Frank Berberich die beim Alexander Verlag erschienene Anthologie im Max-Liebermann-Haus am Pariser Platz vor. „Die Welt über dem Wasserspiegel“, so der Titel des Sammelbandes, ist eine poetisierte, kosmopolitische Welt, die einmal nicht von – jungen, wilden – Berliner Autoren beschrieben wurde. Das lässt aufatmen, hat doch ein zur Manie geratener „Hauptstadt-Hype“, der sich nicht nur in der „Real Soap“ rund um den Hackeschen Markt, sondern auch oft genug in literarischer Unbedarftheit niederschlug, die Geduld des Lesers auf die Probe gestellt. Die jüngste Vergangenheit nervte mit Anthologien, in denen Mittdreißiger ihr unbestimmtes Nichtstun mit den Straßen von Prenzlauer Berg in Verbindung bringen durften. Nicht so die Festival-Anthologie, für die dreiunddreißig Autoren aus verschiedenen Ländern jeweils drei Gedichte der „Weltliteratur“ ausgewählt haben. So ergibt sich eine Summe von neunundneunzig poetischen Texten unterschiedlichster Zeiten und Stile, die – vermittelt – auf Berlin hinweisen. Vier der Autoren, die, bis auf den kürzlich verstorbenen israelischen Dichter Jehuda Amichai allesamt am Festival teilnehmen, lasen bei der Buchvorstellung im Max-Liebermann-Haus eigene und „Weltliteratur“-Texte vor. Es waren die Australierin Pam Brown, der Chinese Bei Dao, Enrique Fierro aus Urugay und die Afroamerikanerin Rita Dove. Die Berliner Schauspieler Tina Engel und Hanns Zischler lasen, konzentriert und unprätentiös, die deutschen Übersetzungen. Dann las Bei Dao einen tausend Jahre alten Text, ein Liebesgedicht der Poetin Li Qing-Zhan aus der Song-Dynastie, auf Chinesisch vor. Die Aufmerksamkeit der Journalisten und geladenen Gäste, die nach den Reden in Richtung Parkettboden gesunken war, schnellte hoch, man spitzte die Ohren, war von der eigenwilligen Sprachmelodie überrascht. Tina Engel, anscheinend ganz im Schwange des Gehörten, vergass ihren Einsatz mit der deutschen Fassung, die eigentlich nicht mehr nötig gewesen wäre.
Bei Dao, einer der bedeutendsten chinesischen Gegenwartsdichter und Nobelpreiskandidat, las, anders als seine Kollegen, keinen eigenen Text vor. Auch in der Anthologie verzichtet er auf sich selbst zugunsten von Dylan Thomas, Ossip Mandelstamm und Paul Celan. Der Dichter hatte schon in den Siebzigerjahren auf Menschenrechtsverletzungen in seiner Heimat aufmerksam gemacht. Von einer internationalen Lesereise, auf der er von dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens erfuhr, kehrte er 1989 nicht nach China zurück. Die aufständischen Studenten sollen Zeilen seiner Gedichte als Slogans benutzt haben, Bei Dao galt von nun an als Staatsfeind. Heute lebt der Zweiundfünfzigjährige in Kalifornien und hofft darauf, nach China zurückkehren zu dürfen, um seinen kranken Vater noch einmal zu sehen. An die Kraft und Schönheit des Wortes glaubt er immer noch.
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