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Ein Greis von fünfundzwanzig

Blick in die Werkstatt: Ein neuer Sammelband und drei bislang unbekannte Texte dokumentieren die Anfänge des Feuilletonisten Joseph Roth in Wien

von VOLKER WEIDERMANN

Als Erstes hat er sein Unglück besucht. Er wusste damals noch nicht, dass es sein Unglück werden würde. Es heißt: Steinhof. „Insel der Unseligen“. Die Nervenheilanstalt vor den Toren Wiens. Er beginnt: „Da liegt sie, die Gartenstadt der Irrsinnigen, Zufluchtsort an dem Wahnsinn der Welt Gescheiterter, Heimstätte der Narren und Propheten. Goldregen leuchtet über weißen Kies, Kastanien haben festlich leuchtende Knospen angesteckt und Lerchengeschmetter prasselt nieder aus blauen Lüften.“

Es war der erste Artikel, den der 24-jährige Joseph Roth als Redakteur für den Neuen Tag, dieehrgeizige Wiener Zeitungsneugründung von Benno Karpeles, geschrieben hat. April 1919. Das Leid der Menschen erscheint ihm fast leicht. Sie haben sich zurückgezogen von einer Welt, die in den vier Jahren zuvor, im großen Krieg, beschloss, den Wahnsinn Normalität zu nennen. Joseph Roth zeichnet eine Art Idylle. Doch dieser Ort wird sein Albtraum werden. Steinhof. Der Schrecken. Ab Dezember 1933 Heimstatt seiner Frau Friedl, für deren Unterbringung in einem privaten Sanatorium Roth nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland das Geld fehlte.

Sie litt an schwerer Schizophrenie und Tobsucht, wie es heißt. Schon im August 1922, ein halbes Jahr nach der Heirat der beiden, schreibt Roth von ihrer „Grübelangst“ und „Menschenfurcht“. Manche haben später behauptet, Roth trage die Schuld an ihrer Erkrankung. Seinen unbändigen Willen, die wunderschöne, zarte, aus einfachsten Verhältnissen stammende Frau zu einer großen Gesellschaftsdame umzuformen, habe sie nicht ertragen. Roth hat das später selbst geglaubt. Von seinem letzten Besuch in Steinhof, bei dem er seine tobende Frau nur noch durch ein Guckloch sehen durfte, hat er sich nie wirklich wieder erholt. Als ihn ein Freund fragt, warum er sich das antue, antwortet Roth: „Einmal im Leben muss man sich zu Rechenschaft ziehen.“ Und an den Schriftstellerkollegen René Schickele schreibt er: „Zehn Jahre meiner Ehe haben mir vierzig bedeutet und meine natürliche Neigung, ein Greis zu sein, unterstützt das äußere Unglück in einer schrecklichen Weise.“

Das äußere Unglück war noch klein, damals, im Wien von 1919 und 1920, als der Journalist Joseph Roth das Schreiben begann. Ja, er war arm, fast mittellos und Wien, die Stadt, in die er fünf Jahre zuvor aus dem äußersten Osten der Monarchie gezogen war, Hauptstadt eines Rumpfstaates, einer plötzlichen, einer zerstümmelten, übrig gebliebenen Republik. Aber der Kriegsheimkehrer Roth hatte Erfolg in dieser Stadt. Er war Teil der Redaktion der ehrgeizigsten Zeitungsneugründung Wiens, des Neuen Tag. Einer Eliteredaktion, wie Robert Musil sie nannte, in der neben Roth auch so legendäre Feuilletonisten und Reporter wie Alfred Polgar, Egon Erwin Kisch und Arnold Höllriegel beschäftigt waren. Eine linksgerichtete Zeitung, der bei der Gründung von den Finanziers vertraglich Verzicht auf „Einfluss der Besitzer“, also völlige Unabhängigkeit der Redaktion zugesichert worden war. Leider war sie nicht von Einnahmen unabhängig und musste nach anderthalb Jahren wieder eingestellt werden. Aber diese anderthalb Jahre brachten dem Feuilletonisten Roth ersten Ruhm.

Doch trotz des Erfolges: Roths Neigung, ein Greis zu sein, ist in fast allen Texten des jetzt von Helmut Peschina herausgegebenen Buchs des frühen Journalisten Roth in Wien, das nur Arbeiten enthält, die auch in der Werkausgabe bereits nachgedruckt wurden, zu finden. Und auch die drei Texte, die hier in der taz erstmals seit ihrem ersten Erscheinen wieder abgedruckt werden, und deren Fund wir dem Roth-Forscher Rainer-Joachim Siegel verdanken, klingen wie die eines alten Mannes. Es ist ein scheinbar unausrottbares Klischee geworden, der junge Joseph Roth sei ein kämpferischer Sozialist gewesen und der späte, vertrunkene, alte Mann im Pariser Exil ein träumerischer Monarchist. Das ist falsch. Roths Ideale haben sich zeit seines Lebens nicht verändert. Nicht, als er in Berlin als „Roter Joseph“ für den sozialdemokratischen Vorwärts schrieb, und nicht in seinem „Schwarz-Gelben Tagebuch“ im Pariser Exil. Die Ideale der Völkerverständigung, der Gleichheit und des Universalismus, die er mal in einer träumerischen Zukunft, mal in einer verklärten Vergangenheit erkannt zu haben glaubte, die er mal dem Judentum, mal dem Katholizismus, mal dem Sozialismus und meist der Monarchie zuschrieb.

Schon damals, als die Monarchie noch kaum untergegangen war, klingen sie in melancholischen Erinnerungen immer wieder an, „die Reste des Märchens von Schönbrunn“. Trotz des Elends, das die Monarchen über das Land gebracht hatten und das niemandem so wenig entging wie dem genauen Welt- und Menschen- und Elendsbeobachter Joseph Roth. Aber er liebte sie, die alten, gestorbenen Kaiser und Kaiserinnen, wie auch die Großbürger, die noch lebten. Der kleine Text „Die Rundreise des Landeshauptmannes Rintelen“ gibt ein Zeugnis davon: Die Redaktion hatte ihn auf eine erste Berichtsreise ins ungarische Heanzenland geschickt, wo eine Volksabstimmung über den Anschluss an Deutsch-Österreich bevorstand. Aufgrund der mehrheitlich sozialistischen Verhältnisse im Heanzenland wünschte man sich anschlussfreundliche Berichte. Doch Roth freundete sich vor Ort mit einem westungarischen Großgrundbesitzer an, der ihm die ungarische Seite ans Herz legte. Roths Berichte wurden hölzern, hülsenhaft und menschenunfreundlich. Denn sie waren unehrlich. Wann sonst hätte der Journalist Joseph Roth vom „zähen Konservatismus westungarischer Bauernschädel“ geschrieben, oder vom fehlenden „Zusammenhang mit der großen deutschen Geistesgemeinschaft“. Was sollte der Rat an die Bevölkerung, außerhalb Ungarns finde sich „ein höheres Leben“? Nein, daran hat Roth selbst nicht geglaubt. Aber an die ehrwürdige Beschreibung des Barons Lehar und seiner Güte, wie er sie in der „Rundreise“ beschreibt, daran glaubte er sehr wohl.

Und auch an „Die Wienerin“. Die „Pariserin des Ostens“. Hier klingt die vielleicht schönste Selbstbeschreibung an, die Roth im Oktober 1926 aus Odessa an seinen Freund Benno Reifenberg schrieb: „Ich bin ein Franzose aus dem Osten, ein Humanist, ein Rationalist mit Religion, ein Katholik mit jüdischem Gehirn, ein wirklicher Revolutionär.“

Er war es damals schon, als er seinen ersten Bericht über den Steinhof schrieb. Alle Verrückten, die er traf, waren vernünftige Revolutionäre und alte Monarchisten. Einer ist sogar der letzte Kaiser selbst. Er ist traurig und unnahbar. Also lässt Roth ihn stehen. Ein Dr. Regelrecht erklärt, dass der Kommunismus sicher kommt, aber „er wird ein Kommunismus mit ,Goldenem Herzen‘ “ sein. Und die Monarchie wird nicht wiederkommen?, fragt Roth enttäuscht. „Was ist das für eine Frage“, sagt Dr. Regelrecht, „Kommunismus oder Monarchie – beides ist deutschösterreichisch, und beide sind nicht.“ Aber beide sollen sein. Und solange beide nicht sind, sitzen die alten Monarchisten in ihrem so genannten Irrenhaus und warten. Ob Roth nicht dazukommen wolle? „Kommen Sie zu uns, gründen Sie eine Zeitung. Ich will sofort abonnieren.“

Joseph Roth gab das zu denken. Lange Jahre. Am Ende seines ersten Artikels für den Neuen Tag schrieb er: „Und ist es nicht praktisch, sich rechtzeitig ein warmes Plätzchen im Steinhof zu sichern? Ich werde es vielleicht doch tun. Und – eine Zeitung gründen. Ich suche auf diesem Wege Mitarbeiter . . .“ Es meldete sich niemand. In dieser Frage blieb Joseph Roth allein.

Joseph Roth: „Kaffeehaus-Frühling“. Ein Wien-Lesebuch hrsg. von Helmut Peschina, Kiepenheuer und Witsch 2001. 208 Seiten, 17,90 DM

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