Sogwirkung vom Atlantik bis zum Ural

Viele der 1991 vorgebrachten Argumente pro und contra Regierungsumzug erweisen sich im Rückblick als kurios

Erschöpft klang die Stimme von Rita Süssmuth, als die damalige Bundestagspräsidentin am 20. Juni 1991 spätabends im Bonner Parlament das Ergebnis der Kampfabstimmung verkündete: 337 Stimmen für Berlin, 320 für Bonn – das Schicksal des Regierungssitzes am Rhein war besiegelt. Mehr als elf Stunden hatten die Abgeordneten zuvor über Parteigrenzen hinweg miteinander gerungen, wo Bundestag und Bundesregierung künftig ihren Sitz nehmen sollten.

Viele Abgeordnete aus dem Rheinland haben sich mit dem Umzug schwer getan. Einige tun es immer noch. Der Kölner SPD-Bundestagsabgeordnete Konrad Gilges, der vor zehn Jahren für Berlin gestimmt hatte, bekennt: „Ich bin in Berlin nicht heimisch geworden.“ Er wohnt im Hotel. Das Argument, wonach die Abgeordneten hier näher am Volk seien, hält er für „Quatsch“: „Die meisten Abgeordneten bewegen sich nur in parlamentarischen Zirkeln. Sie kriegen von der Stadt nichts mit.“

Etwas fadenscheinig und – im Rückblick – kurios waren bisweilen die Argumente für oder gegen den Umzug. In einem gemeinsamen Bericht der Bundesministerien für Inneres, Finanzen und Bau hieß es im Frühjahr 1991 warnend, Berlin bekomme als Regierungssitz eine derart kräftige „Sogwirkung“, dass die Zahl der Einwohner bis 2005 von dreieinhalb auf sechs Millionen hochschnellen werde. Tatsächlich hat Berlin seither 60.000 Einwohner verloren.

Ein Gutachten für die Staatskanzlei der nordrhein-westfälischen Landesregierung – einer erklärten Bonn-Befürworterin – prophezeite gar, dass Berlin zur „größten Industriestadt zwischen Atlantik und Ural“ aufsteigen werde. Dann, so die listige Argumentation, könne der Regierungssitz dem kleineren Bonn überlassen werden. Heute beschäftigt das produzierende Gewerbe in Berlin 1,53 Millionen Menschen, gut 100.000 weniger als vor zehn Jahren. Ganz besonders weit gingen die Vorhersagen für die Umzugskosten auseinander: Berlins damaliger Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer (CDU), ein Umzugsbefürworter, schätzte die Kosten auf 5 Milliarden Mark. Theo Waigel (CSU), damals Finanzminister und Umzugsgegner, sagte hingegen 70 bis 90 Milliarden voraus. Bislang wurden nach Angaben des Bundesbauministeriums erst 11 Milliarden Mark ausgegeben, 9 weitere sollen folgen. AFP