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Nichts als die Welt

Der Ursprung menschlicher Zwietracht: Friedrich Koffkas „Kain“ unter Uwe Lehrs Regie im Theater unterm Dach

Wenn zwei junge Kerle die Bibel bemühen und uns anhand der Genesis die Welt erklären wollen, muss das nicht unbedingt Grund genug sein, sie einen Abend lang im Theater zu besuchen.

Es kann sich aber lohnen – so wie im Fall der Off-Produktion „Kain“, die derzeit im Theater unterm Dach zu sehen ist. Drei ehemalige Mitglieder des Dresdner Jugendtheaters präsentieren dort Friedrich Koffkas Einakter von 1918 als kurzweilige Abhandlung über den Ursprung menschlicher Zwietracht.

Die Sprösslinge der ersten Weltfamilie stehen sich feindselig auf einem nebligen Feld gegenüber. Dass sie sich nicht gut leiden können, merkt man sofort. Gleich die erste Szene beginnt mit einem Streitgespräch, das sich fortan wie ein roter Faden durch den weiteren Verlauf des Stückes zieht.

Abel, der folgsame, beliebte und tatkräftige Junge, hat nicht besonders viel für seinen nichtsnutzigen Bruder Kain übrig. Kain, melancholischer Rebell und ein klein wenig selbstmitleidig, verachtet wiederum Abels Welt und deren Konventionen. Es entspinnt sich ein Dialog des Unverständnisses, der schließlich in einer absurden Szenerie kompletter Zerstörung ausufert.

Alle zarten Versuche der Annäherung waren spätestens zu dem Zeitpunkt versiegt, als der pure Hass laut deklariert wurde. Da war dann auch klar, wo das Spiel enden würde: Einer der beiden Brüder würde die Nerven verlieren.

Uwe Lehr beweist in seiner fast strebsam textnahen Inszenierung mitunter auch Gespür für Komik – in den Momenten, in denen er sich von Koffkas Vorlage entfernt. Etwa wenn Abel in seiner Wut und scheinbaren Kaltblütigkeit ein Drahtschaf mit der Gartenschere schlachtet, während Kain sich selbstversonnen Ostrock und Karaoke hingibt. Stefan Thiel und Tom Wlaschina sind dabei sowohl in den komischen als auch bitteren Szenen als Bruderpaar äußerst überzeugend.

„Kain“ spiegelt Koffkas Umfeld, die Zeit des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs am Ende des Ersten Weltkriegs. Gleichzeitig aber ist das Stück eine zeitlose Parabel über Anpassung und Gesellschaftsunfähigkeit. Wenn am Ende einer der Brüder tot ist, muss der perplexe Zuschauer sich die Frage des Opfer-Täter-Verhältnisses neu stellen. Auch Moralvorstellungen müssen ganz neu überdacht werden.

Ob Koffkas Drama wirklich zeitgemäße Gesellschaftskritik ist, ist dabei schlussendlich gar nicht entscheidend: Wenn Pathos und Brudermord so schön inszeniert werden, schaut man sich auch einfach gern mal an, wie sich andere so im privaten Unglück wälzen. Und uns die Welt erklären. In sechzig Minuten. ELISABETH WELLERSHAUS

Nächste Vorstellungen: heute und morgen, jeweils 20 Uhr, Theater unterm Dach, Danziger Straße 101, Prenzlauer Berg

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