: Exzess am Kühlschrank
■ Zweimal Hochspannung: Ensembles aus Utrecht und Chicago bei „explosive“
Das kennt jeder: Die Party ist vorüber, eigentlich wissen das alle, nur will keiner schon gehen, keiner der erste sein, der den Ort verlässt, der auch die gemeinsame Vereinbarung bedeutet, fröhlich zu sein. Was in dieser Situation allein folgen kann, ist der Exzess. In Form exzessiver langer Weile, in Form von Gewalt und Entgleisung – oder allem zugleich. Der Beginn von „On the Road“, einer Produktion der Utrechter Gruppe „Growing up in public“, ist ein gleitender. Betritt man die Kesselhalle des Kulturzentrums Schlachthof, in der jetzt das Jugendtheaterfestival „explosive“ gezeigt wird, haben die fünf AkteurInnen bereits mit reichlich Bier und Knabberzeug rumgeast. Noch sind alle am tanzen, wild und irgendwie versunken in diese Nacht, die anders sein soll als das tägliche Einerlei von Schule, Freundschaft, Ausbildung, Abendessen mit den Eltern. So anders ist alles dann vielleicht doch nicht.
Die immer absurder werdende Kommunikation zwischen Sofa, mit Bier gut gefülltem Kühlschrank und Stereoanlage – ein Schlag ins Kontor. „On the Road“ nimmt uns hinein in die schreiende Leere, die auf der Bühne zelebriert wird. Was „Growing up in public“ tun, ist aller ausladender Aktion zum Trotz äußerst sparsam. Keine eindeutige Botschaft; die gemeinsame Arbeit des Regisseurs Jeroen Kriek und des Texters Don Duyns typisiert Situationen: Eisiges Schweigen wird immer wieder durch böse Handgreiflichkeiten unterbrochen.
Wie gut das funktioniert, lässt sich daran ermessen, dass die spärlichen Dialoge sich, auch ohne genauere Kenntnis der niederländischen Sprache, unmittelbar erschließen. Simple Verrichtungen wie Hinausgehen, Bier holen oder den An/Aus-schalter der Anlage zu bedienen, verleihen „On the Road“ ein rhythmisches Korsett. Auch eine bizarre Schönheit. Wir verfolgen die ständig wechselnden Allianzen, Zuneigung ist gewollt oder wird abgewiesen. Behutsam und raffiniert verlegen „Growing up in public“ diesen vielleicht geheimsten Bereich jugendlicher Lebenswelt ins Bühnenlicht. Bemerkenswert in der Eleganz, die jegliche Denunziation verhindert, aber auch durch die schauspielerische Qualität, die das junge Ensemble mühelos von Typen zu ,echten Menschen' springen lässt und zurück – ohne das Eigene der Jugendlichen zu entwerten.
Einen ,postdramatischen' Zugang gab es auch am Folgeabend zu betrachten, als das „TeenStreet Theater“ aus Chicago sein irritierendes „CoTingle“ in den Raum spielte. Deutlich brüchiger als bei der Utrechter Company, gibt es keine Einheit von Raum, Zeit, Handlung. In kurzen, sich immer wieder ineinander verschränkenden Sequenzen erzählt das achtköpfige Ensemble von Antonio, einem Jungen, der die Schmerzen anderer Menschen braucht wie eine Droge. „CoTingle“ ist ein abstraktes Spiel darüber, in den nicht so hippen Parts einer Stadt wie Chicago zu überleben. Ein DJ und eine Saxofonistin sind nicht einfach Bühnenmusiker, sondern Teil des Ganzen, sie spielen mit, kommentierend oder als Figuren. Dazu mixt er einen HipHop-Soundtrack ins Geschehen, der direkt mit Handlung und Aktion korrespondiert.
Wovon erzählt wird, ist hard stuff. Missbrauch, Gewalt, Armut und die nicht zu verachtende Schwierigkeit, im Schlamassel eine eigene Position zu finden. „CoTingle“ wirkt recht chaotisch, ist nicht leicht nachzuvollziehen. Aber es wäre auch ein Wunder, wenn's eine leichte, einheitliche Erzählung gäbe. Wie man zur Sprache bringt, was und wer man ist, wenn einem die Sprache (oder im übertragenen Sinne: die Stimme) genommen wurde, davon erzählt „CoTingle“. Nicht leicht, aber unglaublich spannend.
Tim Schomacker
Weitere Aufführungen des Jugendtheaterfestivals „explosive“ heute und morgen um 20 Uhr im Kulturzentrum Schlachthof.
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