Schneller als der Tod

Der Bau der ersten Privat-Metro geht unaufhaltsam voran

Außer dem August-Putsch gab es 1991 noch ein bedeutendes Ereignis in Moskau: Leonid Muljartschik fuhr zum ersten Mal in seinem Leben Metro. Wie er da so von einer marmorglänzenden Station zur anderen ratterte, fühlte er sich zunehmend gekränkt. Muljartschik stammt nämlich aus Lebedjan, einem Agrarzentrum 450 km südlich der Hauptstadt. Und dort gab es damals rein gar nichts Vergleichbares. Nichts! „Sind etwa wir Lebedjaner weniger wert als die Moskauer?“, fragte sich Muljartschik. Kaum daheim, begann er einen Metro-Tunnel zu graben.

Hinz und Kunz verfügen ja heute über einen Privatjet. Leonid Muljartschik aber baut an der ersten Privatmetro unter unserer Erde. Eben dort unten befindet sich der stämmige Mittsechziger denn auch 14 Stunden am Tag. Er taucht nur ab und zu auf, um zu schlafen oder zu essen. Dabei schwebt ihm nichts Unmäßiges vor. Was er plant, ist eher eine Bimmel-Metro. In ihre Kabinchen sollen je vier bis fünf Passagiere passen. Die Idee hat in den Augen der etwa 23.000 Lebedjaner nur einen Haken: Das Städtchen ist so klein, dass man es in 20 Minuten zu Fuß durchmessen kann.

Nicht aber um messbaren Nutzen geht es Muljartschik, sondern um die Würde der Provinzlerexistenz. „Sollen wir hier etwa weiter unser Leben damit verbringen, im Regen auf den Bus zu warten oder täglich Riesenstrecken zu gehen?“, fragt er. Zumindest unterirdisch möchte er Lebedjan auf die Höhe der römischen Zivilisation mit ihren Viadukten bringen. Am Rande des Städtchens haben die Häuser nämlich weder Gas noch fließendes Wasser. Für solche Leitungen baut Muljartschik parallel zum Passagier-Tunnel noch einen zweiten Stollen. Die fertig gestellten Abschnitte sämtlicher Tunnel zusammen ergeben heute einen dreiviertel Kilometer.

Wenn es dem ehemaligen Metallgießer auch nicht an Sturheit fehlt, so fehlt es ihm doch an Finanzen. Auf dem unweit vorbeifließenden Don dümpelt ein schmucker, von Muljartschik selbst konstruierter Raddampfer. Mit dessen Hilfe wollte er Einnahmen für sein Hauptprojekt erzielen. Leider stellte sich heraus, dass den Lebedjanern das Geld für Wasserausflüge fehlt. Deshalb muss Muljartschik immer noch auf moderne Tunnelbautechnik verzichten und unter Tage mit den Werkzeugen weiterwursteln, die ihm seine magere Rente erlaubt: hauptsächlich mit einer rostigen Spitzhacke.

Wird es ihm vergönnt sein, zu Lebzeiten Licht am Ende des Tunnels zu erblicken? Muljartschik weiß es nicht. Doch aufzuhalten ist er nicht mehr, seit etwas geschah, was nicht nur er persönlich für ein Wunder hält: Der Chefarchitekt der Gemeinde erteilte ihm die Lizenz für das Untertageprojekt. Betrüblicherweise steht die Geduld der Anlieger der Baustelle hinter Muljartschiks Ausdauer zurück. Anders als der Fortschrittsmensch wollen sie die bescheidenen Bequemlichkeiten ihres gegenwärtigen Lebens keiner noch so strahlenden Zukunft opfern. Ihre Kühlschränke streiken und Fernsehgeräte fallen aus, während Muljartschik das Überland-Stromkabel anzapft. Alle Nachbarn stört das monotone unterirdische Klopfen. Dass trotzdem noch niemand behauptet, der Rentner untergrabe die Grundfesten Lebedjans in höherem Auftrage, etwa im Dienste des Weltzionismus – dies ist bei alledem das größte Wunder.

Menschlich ist der alte Mann vereinsamt: der Sohn geniert sich seiner, die Tochter ist aus der Stadt fortgezogen, seine Frau hat sich scheiden lassen. Sie bemängelte, dass er in all den Jahren, in denen er sein technisches Genie an das Metro-Projekt verschwendete, nicht ein einziges Mal daran dachte, den heimischen Kühlschrank zu reparieren. Nun aber ist Frau Muljartschik wenigstens in einer Hinsicht zufrieden: sie hat mit der Scheidung den einst gemeinsamen Garten geerbt, in dem ein Probe-Stollen für das Metro-Projekt verläuft, kühl genug, um die Lebensmittel frisch zu halten.

Der Tiefbaupionier selbst macht sich nichts aus der Einsamkeit. Er fürchtet nur einen Opponenten: quicklebendig hämmert Muljartschik mit dem eigenen Tod um die Wette. „Wahrscheinlich bin ich meiner Zeit voraus“, sagt er, „aber ich kann’s mir nicht leisten, zu warten, bis die Geschichte mich einholt.“ BARBARA KERNECK