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Event der Stille

Jenseits poppiger Farbigkeit: Kupferstichkabinett erschließt Bestände  ■ Von Petra Schellen

Es ist ein bisschen wie im Märchen: In der verschlossenen Kiste lagern die teuersten Schätze; das empfindlichste Stück ist das wertvollste; der unausgesprochene Satz ist dem Vernehmen nach der intelligenteste. Oder etwa nicht? Sollte es möglich sein, dass manche Schachtel nicht zum Klappern gebracht werden kann, weil sie tatsächlich leer ist? Dass stille Seen nicht notwendigerweise tief sind?

Müßig, über all das zu reflektieren; weniger müßig, einige Blicke auf die Bestände des Hamburger Kupferstichkabinetts in der Kunsthalle zu werfen: Eremitenartig, gut verschlossen in getäfelten Wandschränken lagern deren 100.000 Blätter, die live zu betrachten allenfalls bei spezieller Beleuchtung erlaubt ist, weil zuviel Tageslicht schnell ihre Farbkraft mindert.

Wie empfindliche Pflänzchen, auf deren Bedürfnisse sich ausnahmsweise mal der Mensch einstellen muss, gerieren sie sich. Zur kostbaren Ware wird so die vor dem Bild verbrachte Echtzeit – ein guter Anlass, sich der Vergängkeit jedes Originals bewusst zu werden, das irgendwann, endlos restauriert, vielleicht keine echte Faser mehr enthält.

Doch noch ist die Kunstbetrachtungszeit genauso wenig rationiert wie der Zutritt zu Städten wie Florenz; jeder, der mag, kann sich während der Öffnungszeiten des Kupferstichkabinetts Blätter aus dem Bestand zur Live-Betrachtung vorlegen lassen.

Aber solch vereinzeltes Publikumsinteresse genügt den Verantwortlichen natürlich nicht: Größere Interessentenmengen wollen sie für die Graphiken begeistern. Uunbearbeitet darben zudem seit längerem die Blätter des Kabinetts, die, so Kunsthallen-Direktor Uwe Schneede, „bei bedeutenden Ausstellungen immer angefragt werden“, in den Schränken. Der letzte Bestandskatalog des Kupferstichkabinetts wurde übrigens in den 60er Jahren erstellt und ist längst vergriffen. „Natürlich, Forschung spielt sich im verschwiegenen Kämmerlein ab, und ein Event-Museum wollen wir auch nicht werden“, so Schneede.

Aber der Öffentlichkeit ganz vorenthalten will Kupferstichkabinettsleiter Andreas Stolzenburg auch nicht, was zahlreich in den Schränken lagert. Wenigstens die Meisterzeichnungen sollen künftig – lichtunabhängig – jederzeit im neu zu erstellenden Bestandskatalog einsehbar sein: – 1500 niederländische, je 1000 italienische und deutsche, rund 200 bis 300 französische sowie 120 spanische Graphiken sollen der wissenschaftlichen und sonstig interessierten Öffentlichkeit zugänglich sein. Ein Projekt, das bezahlte Spezialisten dringend erfordert: Die Zeit-Stiftung steuert deshalb zwei Drittel des drei-Millionen-Gesamtbudgets des Fünfjahresprojekts bei, in dessen Rahmen drei befristete Wissenschaftlerstel-len – je eine für Zeichnungen der niederländischen, italienischen und deutschen Schule – à circa drei Jahre geschaffen werden sollen; die Niederlande-Spezialistin arbeitet schon seit April.

Mit Zuschreibung, Datierung, Qualität und Einordnung in Epochen- und Personalstil sollen sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter befassen. Zur „Halbzeit“ jedes Projekts will Stolzenburg außerdem ein internationales Symposion einberufen, damit „vor allem Zuschreibungsprob-leme im direkten Gespräch mit Fachleuten geklärt werden können“. Abgesehen davon wird es auch einen öffentlichen Live-Output der systematischen Bestandsaufnahme geben: Ausstellungen der – nach Ländern sortierten – Meisterzeichnungen sollen den Abschluss jedes Teilprojekts begleiten.

Vordergründig pädagogisch wollen die Ausstellungsmacher dabei zwar nicht auftreten, aber die Hoffnung hegen sie natürlich schon, dem Publikum durch verstärkte „Öffentlichkeitsarbeit“ en passant den Zugang zu den filigranen Zeichnungen zu eröffnen. Vielleicht ein interessanter Beitrag zu einer alternativen Wahrnehmungsschulung jenseits des auf Pop-Farben konzentrierten Mainstreams, was die Macher hier betreiben: analog musikalischen Piano-Klängen das nur mit Geduld Erschließbare zu präsentieren, auf dessen Hintergrund plakative Farbigkeit erst als solche empfind- und genießbar wird.

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