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Ausliefern oder sitzen lassen

Die Entscheidung des jugoslawischen Verfassungsgerichts, das Dekret zur Auslieferung von Milošević auszusetzen, entzweit die Regierung in Belgrad

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

Der ehemalige Präsident Slobodan Milošević schafft es selbst aus dem Gefängnis heraus, noch einmal eine politische Krise in Jugoslawien auszulösen. Das Tauziehen um seine Ausliefung an das Den Haager Kriegsverbrechertribunal über das ehemalige Jugoslawien hat Folgen sowohl für die jugoslawische Bundesregierung als auch für die serbische Regierungspartei DOS.

Die gestrige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das Regierungsdekret über eine Auslieferung Milošević’ auszusetzen, zog dementsprechend unterschiedliche Reaktionen nach sich. „Dieses Urteil war zu erwarten“, erklärte Bundesinnenminister Zoran Zivković unmittelbar nach der einstündigen Sitzung. Die fünf Richter des Verfassungsgerichts stammten noch aus der Zeit des Milošević-Regimes. Sie hätten stillschweigend alle im vergangenen Jahrzehnt von Milošević verübten Verfassungsverletzungen hingenommen und so ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt (siehe Kasten).

Serbiens Ministerpräsident Zoran Djindjić kündigte an, seine Regierung wolle entsprechende Maßnahmen auf Landesebene treffen, um die Auslieferung von Milošević zu ermöglichen. Djindjić geht davon aus, dass Jugoslawien als Mitglied der UNO automatisch verpflichtet ist, mit einer UN-Institution wie dem Haager Tribunal zusammenzuarbeiten. Anders denkt jedoch Jugoslawiens Präsident Vojislav Koštunica. In einem Gespräch mit dem Generalsekretär der Milošević-Sozialisten soll er am Mittwoch erklärt haben, dass das Regierungsdekret über die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal nicht in Kraft treten dürfe, ehe das Bundesverfassungsgericht ein endgültiges Urteil getroffen habe. Kostunica gilt als ein unerschütterlicher Legalist.

Die Verabschiedung eines Bundesgesetzes über die Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher war an der „Sozialistischen Volkspartei“ (SNP) aus Montenegro gescheitert. Sie lehnte ein solches Gesetz über die „uneingeschränkte Zusammenarbeit“ mit dem Den Haager Tribunal ab und löste eine Krise in der Bundesregierung aus.

Nun droht zudem eine Spaltung in der in Serbien regierenden DOS. Weder Koštunica noch ein anderer Vertreter seiner „Demokratischen Partei Serbiens“ (DSS) wohnten einer Krisensitzung des aus achtzehn Parteien zusammengesetzten Bündnisses bei. Thema dieser Sitzung war die umstrittene Zusammenarbeit mit dem Tribunal.

Zehntausende Anhänger von Milošević demonstrieren seit drei Tagen in Belgrad gegen die Auslieferung des ehemaligen Präsidenten. „Verrat!“ und „Nato-Faschisten!“ riefen die Demonstranten. Die Führung der „Sozialistischen Partei Serbiens“ (SPS), deren Vorsitzender immer noch Milošević ist, forderte dessen sofortige Freilassung. Erst danach würden sie die Massenkundgebungen einstellen. Eine „Volkswache“ wollte seit gestern vor dem Belgrader Zentralgefängnis stehen und eine „Entführung“ von Milošević nach Den Haag verhindern.

Allerdings beginnt sich Serbien jetzt auch mit den Verbrechen in den Zeiten des Kosovokrieges auseinander zu setzen. Dazu tragen Presseveröffentlichungen über die Vertuschung von Massakern bei, über deren Verlauf sich Zeugen zu Wort melden.

Gestern gaben serbische Gerichtsmediziner die ersten Ergebnisse der Untersuchung eines neulich entdeckten Massengrabes in Batajnica bei Belgrad bekannt. Die Leichen der Opfer waren aus dem Kosovo weggeschafft worden. Insgesamt wurden vierzig Leichen entdeckt, darunter acht Kinder unter fünf Jahren, ein etwa acht Monate altes Embryo und fünf minderjährige Jugendliche. Alle Leichen seien albanische Zivilisten aus dem Kosovo, hieß es in dem Bericht der Gerichtsmediziner. Aus persönlichen Dokumenten könne man schließen, dass alle in der gleichen Straße im Dorf Suva Reka gewohnt hätten. Vertreter des UN-Tribunals waren bei der Exhumierung anwesend.

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