Anna, Babsi und der Sexappeal

Sie ist nicht nach London gereist. Trotzdem sprechen alle und vor allem jedermann von ihr: Anna Kurnikowa hat dem Frauentennis einen Aufschwung verschafft, von dem auch die sportiven Spitzenkräfte profitieren – hauptsächlich finanziell

aus Wimbledon MATTI LIESKE

Anna Kurnikowa fehlt in Wimbledon wegen einer lästigen Fußverletzung, allgegenwärtig ist die 20-jährige Russin trotzdem. Kaum eine Spielerin von Rang entgeht der Frage nach den Veränderungen, die Kurnikowa im Frauentennis ausgelöst hat und die gern unter dem Slogan „Schönheit statt Klasse“ subsumiert werden.

Die Sport-BH-Reklame der immer noch turniersieglosen Moskauerin unter dem anschaulich illustrierten Motto „Bloß die Bälle sollen hüpfen“ hat ein geradezu hysterisches Medienecho in England ausgelöst, die Titelverteidigerin Venus Williams wiederum veranstaltete vor Turnierbeginn keineswegs eine Pressekonferenz, in der sie über ihre sportlichen Perspektiven referierte, sondern stellte auf einem Laufsteg im edlen Riverside Club ihre Wimbledon-Kollektion vor.

Seit längerem beteiligt sich die 21-Jährige bei ihrem Sponsor Reebok am Entwerfen von Tenniskleidern. Als ihr eigenes bei den Australian Open ständig an den falschen Stellen verrutschte, höhnte eine amüsierte Martina Hingis: „Ich hoffe, es war nicht ihre Kreation.“

Jelena Dokic, die 18-jährige Jugoslawin, grummelt zwar, dass lieber Model werden solle, wer auf dem Platz nur gut aussehen will, doch insgesamt sind sich die Spielerinnen inzwischen ziemlich einig: Anna Kurnikowa ist gut für das Tennis.

Die Kritiker und Neider sind verstummt, von Elder Statesman Lindsay Davenport bis zur jungen Russin Lina Krasnorutskaja bejubeln alle die glamouröse Entwicklung ihres Sports. Kann sein, dass die Women’s Tennis Association (WTA) zu mehr Diplomatie und weniger geschäftsschädigendem Gezänk gemahnt hat, doch hauptsächlich dürfte sich die neue positive Stimmung am eigenen Bankkonto entzündet haben.

„Sie verkörpert die Schönheit des Tennis“, sagt Krasnorutskaja über Landsfrau Kurnikowa, ein Adidas-Sprecher bezeichnet sie als „wichtiger für den Tennissport, als es sogar Steffi Graf war.“ Und was gut für das Tennis ist, ist letzten Endes auch gut für die Spielerinnen.

Noch Mitte der Neunzigerjahre war das Frauentennis ein kommerzielles Jammertal: Sabatini zurückgetreten; Graf ständig verletzt; Wimbledon wurde von der Grundlinienlangweilerin Conchita Martinez gewonnen, und am Horizont gab es nur die biedere Schweizerin Martina Hingis. Unter diesen Umständen hatte die WTA gewaltige Probleme, überhaupt einen Hauptsponsor für ihre Tour zu finden. Inzwischen florieren die Geschäfte wie niemals zuvor, die Ausrüsterfirmen reißen sich um die Stars der Branche und zahlen sogar schon Zwölfjährigen Riesensummen, in der Hoffnung, auf eine neue Kurnikowa zu stoßen.

Diese wurde schon mit zehn Jahren von Adidas unter Vertrag genommen, Venus Williams erhielt bereits mit 14 einen Fünfjahresvertrag von Reebok über 12 Millionen Dollar, den sie im letzten Jahr, als sie Wimbledon, US Open und Olympia gewann, um weitere fünf Jahre verlängerte – für die Rekordsumme von 40 Millionen Dollar.

Da lässt es sich verschmerzen, dass die Reichste im Lande eine ist, die an sportlichen Meriten lediglich einen Stammplatz in den Top Ten vorzuweisen hat: Anna Kurnikowa, die allein im letzten Jahr rund 12 Millionen Dollar, so viel wie Pete Sampras, einnahm. Mit etwas mehr als der Hälfte mussten die Williams-Schwestern jeweils vorlieb nehmen, doch selbst die lange Zeit als unvermarktbar geltende Davenport brachte es noch auf 6 Millionen. Vom Boom profitiert auch eine Arantxa Sanchez-Vicario, die trotz Sturzes aus der Spitzengruppe 1,5 Millionen Dollar einnahm, ungefähr so viel wie Jennifer Capriati. Der US-Amerikanerin steht nach ihren Turniersiegen von Australien und Paris aber ein gewaltiger Sprung bevor. Die Vermarktungsfirma IMG verhandelt gerade ihren Vertrag mit dem Ausrüster Fila neu, den sie Anfang 2000 noch zu relativ bescheidenen Konditionen geschlossen hatte. IMG ist überhaupt der große Gewinner des Popularitätsschubes; von 18 Siegerinnen bei den Grand-Slam-Turnieren seit 1997 betreute die Firma 16.

Fast noch mehr als Anna Kurnikowa haben jedoch die schwarzen Williams-Schwestern das Tennis vorangebracht. Ähnlich wie Golfer Tiger Woods erschließen sie dem Sport neue Märkte und sorgen mit ihrer Präsenz bis zum Ende der meisten Turniere sowie diversen Rivalitäten und Skandälchen dafür, dass das Interesse des Fernsehpublikums nicht erlahmt. „Venus ist ein Vorbild für die Jugend aus den Ghettos der US-Großstädte, und ihr enormer Appeal überschreitet den Sport, Alter, Geschlecht, Rasse und geografische Grenzen“, schwärmt Angel Martinez, Marketingchef von Reebok. Zu den Unternehmen, für welche die ältere der Williams-Schwestern wirbt, gehört nicht nur der Kosmetikkonzern Avon, sondern auch die Kaugummi-Firma Wrigley’s. Beide haben zum ersten Mal einen Sportstar verpflichtet.

Doch Kurnikowa hin, Venus Williams her, es ist nicht nur der Appeal, der das Frauentennis zu einer heißen Sache macht. „Niemand will hässlich aussehen auf dem Platz“, sagt Jelena Dokic, „aber es geht immer noch darum, Matches zu gewinnen.“ Das tat sie am Samstag gegen die vom Daily Mirror in Kurnikowa-Vertretung zum „sexiest female player“ erklärte Österreicherin Barbara „Babsi“ Schett und zog ebenso wie die Williams-Schwestern ins Achtelfinale ein.

Dort trifft sie auf Lindsay Davenport, welche die sportliche Brisanz im aktuellen Frauentennis unterstreicht: „Sehr selten in der Geschichte gab es bei jedem Grand-Slam-Turnier fünf Titelanwärterinnen.“ In Wimbledon sind es zu Beginn der zweiten Woche mit Davenport, den Williams-Schwestern, Capriati, Dokic und Clijsters sogar noch sechs.