Wenn Juroren zu wenig streiten

Karrierebeschleuniger mit Problemen: Gestern gingen die Tage der deutschsprachigen Literatur zu Ende. Ingeborg-Bachmann-Preis-Träger des Jahres 2001 darf sich nun der Autor Michael Lentz nennen. Der Vorlesewettbewerb in Klagenfurt selbst nahm dafür mal wieder eine Krise

Das Alles oder Nichts für die vorlesenden Autoren ist längst vorbeiRepräsentiert die Jury tatsächlich die derzeit aktuellen Konfliktlinien?

von DIRK KNIPPHALS

Das Fernsehen, sagt man, ist ein profanisierendes Medium; gegen seine entzaubernde Kraft komme nichts und niemand an. Bei dem Großen Vorlesetheater, das inzwischen Tage der deutschsprachigen Literatur heißt und das wir doch nur unter dem Namen Bachmann-Festival kennen, ist allerdings eher das Gegenteil der Fall. Konzentration, Textgläubigkeit, heiliger Ernst (mit Ausnahmen, die die Regel bestätigen): Wer diesen ebenso merkwürdigen wie sagenumwobene Literaturwettbewerb auf der Mattscheibe verfolgt – wozu der Fernsehsender 3sat ja auch diesmal jede Gelegenheit bot –, kann den Eindruck entwickeln, hier sei mal wieder für einige Tage im Juni ein Kloster eingerichtet worden für alle Literaturgläubigen des deutschsprachigen Raums. Klagenfurt, ein Ort, an dem nichts zählt als der Text und das Reden darüber.

Für denjenigen, der die Sache am Ort des Geschehens verfolgt, verflüchtigt sich dieser Eindruck allerdings schnell. Was nicht nur damit zusammenhängt, dass, wer hier nicht gänzlich die Augen vor den Realitäten des Lebens verschließt, Schriftsteller, Lektoren und Kritiker in Badehose sehen kann (beziehungsweise ihre Kolleginnen in Badeanzug) – ein Anblick, der geeignet ist, jede Medieninszenierung auf ein menschliches Maß zurückzuschrauben. Der Wörther See hatte jedenfalls dieses Jahr sanfte 21 Grad, und zumindest der Frankfurter Verleger KD Wolff soll neue Ausdauerrekorde im Schwimmen aufgestellt haben.

Darüber hinaus, und das ist noch viel ernüchternder, kann man in der Livesituation den Medien bei der Arbeit zusehen. Zum Beispiel hat man gerade auf irgendeinem Monitor Ulrich Greiner, Hubert Winkels und Elmar Krekeler zugehört, wie sie sich über das Festival im Besonderen und die Literaturkritik im Allgemeinen austauschen (nötig sei eine „Ausweitung der Vermittlungszone“, so Krekeler, was immer das heißen soll), dann ist man die paar Schritte aus dem Studiogebäude des österreichischen Fernsehens, in dem alles stattfindet, an die frische Luft getreten, und schon sieht man einige Meter weiter die drei Literaturkritiker vor einer Kamera stehen, wo die Aufnahme gerade vonstatten geht. Der Moderator Gerd Scobel hat sich, ganz locker, dort zum Empfang von Interviewpartnern eine kleine Sendetrutzburg aufgebaut.

Klagenfurt live, das ist ein ständiges Umschalten zwischen realen und medialen Situationen, ein Dabeisein bei der immerwährenden Verfertigung des Ereignisses beim Senden. Und man ahnt: Das Sprechen über Literatur und die mediale Vermittlung dieses Sprechens fällt nirgendwo im deutschsprachigen Literaturbetrieb so intensiv und gleichzeitig aber auch so entspannt zusammen wie hier. Einige Augenblicke später sah man Greiner und Winkels schon wieder von keiner Kamera beobachtet Zigarette rauchen.

Solche Gedanken rund um den Rahmen des Festivals konnte man sich dieses Jahr umso intensiver machen, als das Niveau des Wettbewerbs selber nicht immer die höchste Aufmerksamkeit erforderte. Schon sehr bald machte die Wendung von einer eher mittelprächtigen Ausgabe die Runde, und bis zum Schluss gab es nur wenig Gründe, von dieser Redeweise wieder Abstand zu nehmen. In der Tat waren die wirklich überzeugenden Texte an so wenigen Fingern abzuzählen, dass an den preisträchtigen Favoriten kaum ein Zweifel bestand. Die Preisverleihung, in der es dann aber doch denkbar knapp zuging und der Schriftsteller Norbert Müller erst fast den Hauptpreis bekommen hätte und am Ende leer ausging, zählte zu den wenigen spannenden Momenten. Wobei die geladenen Autoren wohl noch am wenigsten dafür konnten, dass 2001 eher ein Business-as-usual-Jahrgang wurde.

In den Mittelpunkt der Fehleranalyse geriet vor allem die Jury. Auch das hat Tradition, erreichte dieses Jahr aber eine über das normale Maß der Nörgelei hinausgehende Dringlichkeit. Ulrich Greiner war es vorbehalten, auf dem Monitor im Foyer die allgemeine Kritik auf den Punkt gebracht zu haben: „Es fehlt die Leidenschaft“, führte er aus.

Das ist eine Diagnose, über die man, so ungerecht und pauschal sie auch ist, lange nachdenken kann. Denn entgegen manchem Vorurteil stehen in Klagenfurt ja keinesfalls die 16 vortragenden Schriftsteller im Mittelpunkt, was sich schon daran zeigt, dass man sich schon längst abgewöhnt hat, hier in Kärnten wirklich Entwicklungstendenzen der Gegenwartsliteratur oder auch nur einen repräsentativen Querschnitt derselben geliefert zu bekommen. Die Auswahl gehorcht Zufälligkeiten, und das kann auch gar nicht anders sein. Ein Star kurz vorm Durchbruch wie im vergangenen Jahr Georg Klein war 2001 auch nicht dabei. Zentral aber ist die öffentlich über die Texte diskutierende, urteilende, auch streitende Jury. Mit ihr steht und fällt die ganze Veranstaltung, bei Licht besehen ist sie es, die – zusammen mit der hohen Medienpräsenz – Klagenfurt von allen anderen Literaturtagen unterscheidet. Man kann nicht sagen, dass sie aus dieser Vorgabe diesmal das Optimum gemacht hätte. Manche Diskussion endete in reiner Geschmackskritik. Andere Debatten versandeten, bevor sie begonnen hatten. Zu einem wirklichen Grundsatzstreit kam es nur einmal, als man sich über Bret Easton Ellis und die Popliteratur in die Haare geriet, allerdings aus einem eher nichtigen Anlass, einem hübschen, kabarettreifen, aber schlicht nicht nach Klagenfurt passenden Stück aus der Zürcher Schwuchtelszene von Philipp Tingler nämlich.

Woran lags? Für Ulrich Greiner daran, dass zu wenig Literaturkritiker in der Jury waren, worin ihm sicherlich alle Literaturkritiker Deutschlands sofort zustimmen werden: Neben Denis Scheck vom Deutschlandfunk und erstmals Thomas Widmer vom Schweizer Nachrichtenmagazin Facts waren mit Elisabeth Bronfen und Konstanze Fliedl zwei Professorinnen sowie mit Robert Schindel, Burkhard Spinnen und Birgit Vanderbeke drei AutorInnen vertreten. Aber dass eine kritikerlastigere Jury ihre Sache von sich aus besser gemacht hätte, darf bezweifelt werden; uns jedenfalls sind Vertreter dieses Berufsstandes namentlich bekannt, die auch nicht gerade vor Leidenschaft überquellen.

Hubert Winkels hat im Fernsehmonitor im Foyer eine andere Richtung für die Fehleranalyse aufgezeigt: Das Problem sei, so der Literaturkritiker des Deutschlandfunks, dass die meisten Juroren zu stark an dem jeweils zu behandelnden Text blieben und zu wenig in die Gesprächssituation gingen. Da ist was dran. Sieben Juroren streiten sich über den Text eines Autors, der neben ihnen sitzt: In diesem Setting, das nun mal Klagenfurt ausmacht und nach theatralen Momenten geradezu schreit, zeigte sich die gegenwärtige Jury allzu textbeflissen (und die stark mit Momenten der Nähe arbeitende Kameraführung folgt bei der Fernsehausstrahlung demselben Impuls).

Dies als Problem zu diagnostizieren bedeutet übrigens keineswegs, einer Entwicklung hin zu flachem Entertainment das Wort zu reden. Es geht gar nicht darum, irgendwelche notorischen Krawallmacher in die Jury einzubauen. Vielleicht reicht es ja schon aus, in der Jury die derzeit im deutschen Literaturbetrieb zumindest latent tatsächlich vorhandenen Konfliktlinien und Auseinandersetzungen auch zu repräsentieren. Wenn es gelänge, hier Vertreter der Popliteratur mit Verteidigern der Literaturlandschaft, wie sie noch in den Achtzigern herrschte, und durchaus auch mit Repräsentanten der hybriden Formen von Einwandererkindern der dritten Generation zusammenzubringen, ergäben sich die Auseinandersetzungen, durchaus auch persönlicher Art, von selbst.

Leicht würde wohl auch das nicht, was man schon daran sieht, was für sprachliche Verrenkungen man bei der Beschreibung der einzelnen Planstellen machen muss. Aber dass Klagenfurt (mal wieder) in der Krise steckt und gerade Gefahr läuft, zum reinen Marketinginstrument der Verlage zu werden, das zeigten die vergangenen vier Tage deutlich. Nichts gegen Marketinginstrumente und erst recht nichts gegen Betriebsausflüge mit Schwimmmöglichkeiten, aber unter den hier angelegten Möglichkeiten bliebe das durchaus.

Den antretenden Autoren kann die gegenwärtige Relativierung des Ereignisses Klagenfurt dabei sogar recht sein. Für sie geht es nicht mehr um ein Alles oder Nichts, um eine Initiation in den Literaturbetrieb oder ein Abgestoßenwerden von ihm. Für sie ist Klagenfurt nur mehr eine von mehreren Möglichkeiten der Karrierebeschleunigung. Wenn’s hier nichts wird, versucht man es eben auf einem anderen Weg, einen Verlagsvertrag in der Tasche hat man ja sowieso.

Wie pragmatisch die Autoren die Sache mittlerweile angehen, zeigte das kurze auf 3sat gebrachte Filmporträt von Rainer Merkel. Die Schriftstellerei sei ihm eher so passiert, sagte der 36-Jährige und drückte damit aus, dass er sich durchaus einen anderen Lebenszweck vorstellen könnte. Das aber hätte er, auch wenn’s sympathisch und ehrlich ist, möglicherweise eher lassen sollen. Einen existenzieller aufgeladenen Literaturbegriff möchte man hier wohl schon haben; Merkels Ausschnitt aus seinem Roman „Jahr der Wunder“, der im New-Economy-Milieu spielt, ging leer aus, die einzige Preisentscheidung der Jury, die man bedauern möchte. Aber auch egal, das Buch erscheint eh im Herbst.

Ach ja, die Preisträger. Knapp, aber erwartet hat der 1964 in Düren geborene Autor Michael Lentz den Ingeborg-Bachmann-Preis des Jahres 2001 gewonnen. Jenny Erpenbeck bekam den Preis der Jury, Antje Rávic Strubel den Ernst-Willner-Preis und Katrin Askan den 3sat-Preis. Alles sind gute, wohl begründete Entscheidungen, von allen PreisträgerInnen wird man noch hören. Als Instrument der Karrierebeschleunigung taugt der Bachmann-Wettbewerb nämlich immer noch oder vielmehr so gut wie eh und je und vielleicht sogar noch ein bisschen besser als je zuvor. Die Aufkleber, auf denen „Bachmann-Preisträger 2001“ steht und die nun in Auftrag gegeben werden können, stört es nicht, dass die Diskussionen der Bedeutung des Festivals als Werbeinstrument in diesem Jahr nachstanden.