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Ein Urteil macht Geschichte

1992 starben bei einem brutalen Polizeieinsatz in einem brasilianischen Gefängnis 111 Häftlinge. Jetzt muss der damalige Einsatzleiter selbst in den Knast – lebenslang

SÃO PAULO taz ■ Brasiliens MenschenrechtsaktivistInnen feiern: In einem historischen Prozess ist neun Jahre nach dem Massaker im Carandiru-Gefängnis von São Paulo, bei dem 111 Gefangene starben, der damalige Einsatzleiter verurteilt worden. Nach zehn Verhandlungstagen befanden sieben Geschworene in der Nacht auf Samstag den 58-jährigen Oberst in Reserve Ubiratan Guimarães für schuldig: Wegen Mordes an 102 Häftlingen und Mordversuchs an fünf weiteren erhielt er 632 Jahre Haft.

Am 2. Oktober 1992 war im „Pavillon neun“ von Carandiru, Lateinamerikas berüchtigster Haftanstalt, ein Streit zwischen Gefangenen ausgebrochen. Wenige Stunden später stürmte eine Einheit der Militärpolizei das Gebäude. Guimarães habe die Einsatznormen der Militärpolizei eigenmächtig verletzt, meinte Staatsanwalt Felipe Cavalcanti. Anstatt mit Schilden, Gummiknüppeln und kugelsicheren Westen seien die Polizisten mit Maschinengewehren in das Gebäude geschickt worden. Der damalige Sicherheitschef der Anstalt sagte aus, zuvor hätten die Gefangenen mit weißen Tüchern in den Fenstern ihren Friedenswillen signalisiert. Nicht alle Verhandlungsmöglichkeiten seien ausgeschöpft worden. Auch ein Gutachter sah keine Hinweise darauf, dass die Gefangenen Widerstand geleistet hätten.

Nach Zeugenaussagen wurden viele Häftlinge regelrecht hingerichtet. Andere kamen ums Leben, als sie sich in ihren Zellen mit Matratzen zu schützen versuchten. Neun Gefangene, die an Stichwunden starben, seien möglicherweise von Mithäftlingen umgebracht worden, bevor die Militärpolizei das Gebäude stürmte, sagten die Staatsanwälte. Aparecido Donizete Domingues, einer der Überlebenden, schilderte, wie er den Todeskampf seiner sieben Zellengenossen erlebte: Als er zwei Militärpolizisten um Hilfe geben habe, hätten diese eine MG-Salve auf ihn abgefeuert. Wie durch ein Wunder habe er überlebt.

Guimarães selbst behauptete, es wären mehr Häftlinge ums Leben gekommen, wenn die Militärpolizei die Absicht gehabt hätte zu töten. Es seien ja nur 111 Tote gewesen, „über 2.000 haben überlebt“. Sein Anwalt Vicente Cascione kündigte Berufung an. Guimarães bleibt auf freiem Fuß, bis darüber entschieden ist – was ein Jahr dauern kann.

Dass sich auch auf politischer Ebene seit 1992 etwas getan hat, zeigen die Äußerungen von Marco Vinicio Petrelluzzis, dem Sicherheitsminister des Staates São Paulo. Er begrüßte das Urteil, lobte den Einsatz der Staatsanwälte und sagte: „Die Gesellschaft möchte eine entschlossene Polizei, doch sie soll keine Gewalt einsetzen, ohne dass es die Situation erfordert.“ Im vergangenen Februar beendete die Polizei die bisher größte Revolte im Carandiru-Gefängnis – ohne Blutvergießen.

Amnesty international schickte eine Beobachterin nach São Paulo. Diese sieht in dem Urteil die „klare Botschaft“, dass leitende Polizeibeamte für die Taten ihrer Untergebenen verantwortlich seien. Es sei „nicht mehr akzeptabel, die Schwächen des brasilianischen Polizeisystems auf das Fehlverhalten einzelner Polizisten zu schieben“. Für Sandra Carvalho von der Menschenrechtsorganisation Justiça Global wurde mit dem Urteil der „Kreislauf der Straflosigkeit“ durchbrochen. Dies sei wichtig, um die „zügellose Gewalt“ vieler Militärpolizisten zu beenden. Für ähnliche Prozesse sei ein Präzedenzfall geschaffen worden.

Über hundert weitere Polizisten müssen sich noch wegen des Carandiru-Blutbades verantworten, und in wenigen Monaten stehen im nordbrasilianischen Belém erneut mehrere Militärpolizisten vor Gericht, die 1996 an einem Massaker an 19 landlosen Bauern beteiligt waren.

GERHARD DILGER

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