piwik no script img

Sehnsucht nach Normalität

Raúl Veliz hat seinen ermordeten Vater jahrelang gehasst: „Hätte er nicht Politik gemacht, ich hätte einen Vater gehabt“

aus Santiago de Chile HEIKE HAARHOFF

Das Radio dudelt im Hintergrund, und bisweilen wird der HipHop-Mix von der Top-Meldung des Tages unterbrochen: Augusto Pinochet, gibt der Nachrichtensprecher bekannt, läuft ab sofort wieder frei herum. Cristian Gallardo, Designer bei der chilenischen Modezeitschrift Paula, scannt seelenruhig ein Covergirl mit orangefarbenen Fingernägeln und passendem Lippenstift für den Titel der April-Ausgabe, die in wenigen Tagen erscheinen wird. Der Hausarrest gegen den wegen 57fachen Mordes und Entführung angeklagten Exdiktator, fährt der Sprecher fort, sei aufgehoben. Gegen Kaution. So hoch wie die Abfindung, denkt Cristian Gallardo, mit der sein Vater die Familie zwei Monate über Wasser hat halten können, nachdem das Militär 1990 nach 17 Jahren Diktatur die Regierungsgeschäfte an einen demokratischen Präsidenten abgegeben hatte und die Marine ihren Offizier nicht mehr brauchte.

Der Vater wird sich gleich trotzdem in die Innenstadt von Santiago aufmachen: zur Kundgebung zu Ehren des ehemaligen Oberbefehlshabers der Streitkräfte. Denn trotz allem war Pinochet ihm 17 Jahre lang ein guter Dienstherr gewesen: Reihenhaus in der Offizierssiedlung am Meer, welcher junge Familienvater konnte sich das damals schon leisten? Und im Ort hatten sie alle gehörigen Respekt vor ihm. Schade nur, dass er seinen Sohn Cristian sicher nicht bei der Feierstunde an diesem Tag Ende März antreffen wird. Warum, hat der Vater nie so richtig herausfinden können. Streit jedenfalls hat es darüber nie gegeben. Cristian hält sich da raus.

Der Grafiker Cristian Gallardo, 26, Sohn des Exmarineoffiziers Gallardo, arbeitet weiter wie jeden Tag, als Augusto Pinochet Ende März 2001 vom Hausarrest befreit wird. Raúl Veliz dagegen ruft von der Uni zu Hause an. Seine Mutter und Geschwister sollen sich nicht sorgen, sondern losgehen. Er kann doch seinen kleinen Nichten und Neffen später Abendbrot machen. Er wird das Haus an diesem Märzabend ohnehin nicht mehr verlassen. Seine Mutter bittet, er möge mitkommen. Wenigstens dieses eine Mal. „Raúl, hör mir zu. Die Lautsprecherwagen, die Nein-zur-Straffreiheit-Transparente, alles ist vorbereitet, du musst dich um nichts kümmern als dein Kommen. Immerhin geht es um den Mörder deines Vaters.“ Da legt er auf. Als Pinochet auf freien Fuß kommt, leiht sich der Student Raúl Veliz, 25, Sohn des verschwundenen kommunistischen Parteifunktionärs Héctor Veliz, aus der Uni-Bibliothek zur abendlichen Lektüre ein ingenieurwissenschaftliches Handbuch aus.

Oberflächlich, unkritisch, egoistisch

In den Straßen um das Justizgebäude in der Innenstadt von Santiago versammeln sich derweil an jenem Tag Ende März Menschen. Nach zweieinhalb Jahren Hausarrest, die seit Pinochets Festnahme und der darauf folgenden Anklage vergangen sind (s. Kasten), soll Augusto Pinochet plötzlich wieder Ausflüge unternehmen dürfen. Pinochet, der 1973 den Präsidenten Salvador Allende und mit ihm den Traum vom demokratischen Sozialismus weggeputscht hat. Pinochet, der Chile 17 Jahre lang mit Terror überzog, und der dann, als schon keiner mehr daran glaubte, in seinem eigenen Land doch noch angeklagt wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dieser Mann gegen Kaution frei? Die einen fürchten, die Lockerung des Hausarrests sei nur der erste Schritt auf dem Weg zur drohenden Einstellung des Strafverfahrens gegen den gesundheitlich angeschlagenen 85-jährigen Exherrscher. Die anderen hoffen genau dies. Doch so gegensätzlich die Motivation der Demonstrierenden ist, besonders jung sind sie alle nicht.

Die Diktatur-Generation klinkt sich aus, wenn es um die Frage der eigenen Vergangenheit geht, kritisiert der chilenische Politologe und Jugendforscher Francisco Rojas. Die heute 20- bis 30-jährigen Chilenen, die kurz vor oder nach dem Militärputsch geboren wurden und unter dem totalitären Regime mit Ausgangssperre, Zensur, Geheimpolizei und Versammlungsverbot groß wurden, als sei dies der gesellschaftliche Normalzustand, verweigern sich häufig der politischen Debatte, ziehen sich ins Private zurück, beklagt der Chef der sozialistischen Partei Chiles, Ricardo Núnez. Kennen als einziges Interesse ihre Karriere, seufzt der Menschenrechtsanwalt Hugo Gutierrez. Umgehen die Wahlpflicht in Chile, indem sie sich einfach nicht registrieren lassen. Sind oberflächlich, unkritisch, egoistisch. Das traurige Produkt eines Bildungssystems eben, das Duckmäusertum zur Tugend erhob und entsprechend belohnte.

So klagen Ältere: Soziologen, Politiker, Anwälte, Psychologen, Eltern. Auch wenn in den nächsten Tagen das Berufungsgericht von Santiago über die endgültige Einstellung des Strafverfahrens gegen Pinochet entscheiden wird, rechnet niemand mit einer ernsthaften Einmischung der jüngeren Generation: Die Söhne der Täter und Opfer der Diktatur wollen nichts wissen über ihre Väter. Und vermutlich ist diese Erkenntnis genauso wahr wie zu kurz gegriffen.

Eigentlich mochte Raúl Veliz unter keinen Umständen an dem Gespräch über die Nachwirkungen der Diktatur teilnehmen. Aber seine Mutter hat gesagt: „Raúl, du kannst doch Englisch, bleib doch zur Sicherheit hier, falls die Reporterin aus Deutschland uns nicht versteht.“ Und nun sitzt der junge Mann mit Zopf und runder Brille also mit seinen drei älteren Geschwistern und seiner Mutter zu Hause im Wohnzimmer. Mit dem Rücken zum Foto seines ermordeten Vaters an der Wand, an den er sich nicht erinnern kann. Raúl Veliz war neun Monate alt, als sein Vater an einem Morgen im Dezember 1976 das Haus im Stadtteil Renca verließ und für immer verschwand. „Ich habe ihn jahrelang dafür gehasst“, sagt Raúl Veliz. Und zur Sicherheit sagt er es gleich noch mal auf Englisch, damit bloß kein Missverständnis aufkommt: Ihn hat er gehasst, seinen politisch aktiven Vater, nicht sie, seine Entführer, die ihn später zu Tode folterten. „Hätte er nicht Politik gemacht, hätte ich einen Vater gehabt.“ Dann hätten sie ihn in der Schule nicht gehänselt, dass einer ohne Vater ein Bastard ist. Dann hätten sie bestimmt zu Hause mehr Geld gehabt. Dann hätte seine Mutter nicht so viel geweint.

„Das ist der Grund, warum ich noch heute oft nichts hören will, wenn meine Mutter mir von meinem Vater erzählen möchte.“ So viele Jahre hat er sich gewünscht, ein ganz normales Leben ohne Vorsichtsmaßnahmen, ohne das Flüstern und ohne die konspirativen Treffen zu führen, die nötig sind, wenn man nicht nur seinen Vater aus politischen Gründen entführt bekommen hat, sondern auch als Familie bedroht wird. Jetzt kann er es leben, „und ich strenge mich für diese Normalität an“.

Denn die kindliche Logik mag der Analyse gewichen sein, „dass das mit dem Unrecht und den Schuldigen genau andersherum war“. Doch ein ungutes Gefühl bleibt, eines, das so oft mit Gleichgültigkeit verwechselt wird und eher mit Verlustangst zu tun hat. „Wann immer mich jemand fragt, ob ich nicht irgendwo mitmachen will, denke ich sofort, dass ich dafür bestimmt etwas anderes aufgeben muss.“ Wenn er versucht, das seinen Freunden an der Uni zu erklären, hören die höflich zu und wechseln schnell das Thema. „Es ist, als würde ich ihnen erzählen, wo ich vor drei Jahren im Urlaub war.“ Sich zu engagieren, die Wut in Energie zu verwandeln, wie es etwa seine drei Geschwister tun, die alle in der kommunistischen Partei und bei jeder Demonstration in vorderster Reihe sind, kommt für Raúl Veliz nicht in Frage. Nicht jedenfalls in einer Organisation. „Meine Geschwister waren viel älter, als mein Vater verschwand. Für sie ist er ein Vorbild.“

Cristian Gallardo hatte einen Vater, und er hatte ihn sogar als Vorbild, über viele Jahre. „So wie wir lebten, das wollten doch alle.“ Ein kleines Haus am Rand von Vina del Mar gleich am Pazifik, wo andere Familien ihren Sommerurlaub verbringen und die Marine einen Stützpunkt hat, rauschende Feste an Wochenenden, eine eigene Schule für die Kinder der Militärs, und ein Vater, auf den man stolz war, weil er alles in dieser in sich geschlossenen Welt erklären konnte.

„Ich vertraue keinem mehr“

Wenn abends die Militärs bis an die Zähne bewaffnet an Cristian Gallardos Kinderzimmer vorbeizogen oder auch mit Panzern durch die Straßen fuhren, sagte sein Vater: Hab keine Angst, das ist nur zum Schutz vor den vielen Dieben, die das Land unsicher machen. Und Cristian Gallardo glaubte ihm. Bis zum Bruch. Es war ein Bombenattentat auf die Siedlung der Marineoffiziere Mitte der Achtzigerjahre, und der Vater sagte, das seien die Terroristen, die man bekämpfen müsse. Indem man sie verschleppt, foltert, hinrichtet?, fragte der Sohn. Damals ging Cristian Gallardo bereits aufs Gymnasium, und das lag außerhalb der Militärsiedlung. Sein Vater hätte ahnen können, dass ein „Nein“ nicht ausreichen würde, seinem Sohn den Zweifel zu nehmen. Er verpasste die Chance.

Zu einem klärenden Gespräch ist es bis heute nicht gekommen, und es zu führen, fehlt Cristian Gallardo der Mut. Noch. „Denn es geht ja nicht darum, dass mein Vater, nur weil er alles leugnet, die Wahrheitsfindung in diesem Land verhindern könnte.“ Das Ausmaß der Verbrechen ist auch ohne sein Zutun zutage gefördert worden, spätestens, seit Pinochet angeklagt ist. „Es geht darum, dass er dafür gesorgt hat, dass ich keinem mehr vertraue, dass ich mich keiner politischen Gruppe anschließen kann, selbst wenn ich es wollte.“

Sollte Pinochet in den nächsten Tagen ein freier Mann werden, weil das Strafverfahren gegen ihn eingestellt wird, dann werden Raúl Veliz und Cristian Gallardo ihr Tagwerk vermutlich so unaufgeregt wie immer erledigen. Ganz bewusst und aus gutem Grund.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen