Warme Wege für ein kaltes Klima

Ziel von Künstlern und Kulturpolitikern in der Barentsregion ist es, im äußersten Norden Europas eine Brücke zwischen Ost und West zu schlagen

von LISBETH WEIHE-LINDEBORG

Im Frühsommer sind nördlich des Polarkreises die letzten Schneereste geschmolzen, die Menschen befreien sich von ihren Wollmützen und Mänteln. Im Winter eher dunkle Silhouetten in der weißkalten Dämmerung, bewegen sie sich jetzt mit leichten Schritten wie Tänzer auf einer Bühne. Und sie tanzen gern. Schon immer sind sie weite Wege gefahren, um sich beim Tanzen zu begegnen. Auch drücken sie mit dem traditionellen und künstlerischen Tanz die Dramatik ihrer Lebensverhältnisse aus.

„Im Tanz zeichnen wir unsere Spuren durch die Elemente, durch die Finsternis und das extreme Licht, durch die Stille und die Geräusche der Natur“, sagt Maria Rydén. Als Leiterin des „Barents Tanz Ensembles“ produzierte die Schwedin neulich auf einer Tournee durch die Barentsregion das Drama „Spuren“, mit Tänzern aus den Polarregionen Norwegens, Schwedens, Finnlands und Russlands zu Musik des Komponisten Alexander Katchaew aus Archangelsk.

Um Spuren geht es auch in der Arbeit des international renommierten Bildhauers Ricky Sandberg im schwedischen Luleå. „Wir wollen neue warme Winterwege in ein kaltes Kulturklima pflügen“, lautet sein Motto. Im Rahmen eines EU-geförderten Projekts weist Ricky Sandberg auf die Bedeutung von Schnee und Eis hin, nicht nur um die Verbindungen über weite Entfernungen zu erleichtern, sondern auch als Rohstoff für Kunst.

Neben seiner künstlerischen Arbeit organisiert der Schwede Sandberg jedes Jahr die größten Schnee- und Eisfestivals Europas, vor allem das Luleå ARcTic Festival, ein einmaliges Kulturereignis unter Beteiligung von Bildhauern, Eisforschern, Musikern und Architekten. Als EU-Projekt wird das Luleå-Festival wesentlich erweitert, erzählt er. „Ein Ziel des Projektes ist, die negative Einstellung zum Winter zu verändern.“

Ricky Sandbergs eigener Beitrag zu diesem Sinneswandel war zuletzt der Bau eines Eistempels „Zwischen Himmel und Erde“ zum EU-Ministertreffen in Luleå im Februar 2001. Im Innern der achteinhalb Meter hohen Installation in Kugelform fuhr man mit einem „Fahrstuhl“ zur Spitze, eine Fahrt, die in einem Schimmer von fluoreszierenden Lichteffekten unternommen und von Musik und Geräuschen der Besucher begleitet wurde. Leider gab es nach vier Wochen keinen Eistempel mehr.

„Unser übergreifendes Ziel ist es, die regionale Identität in der Barentsregion zu stärken“, unterstreicht Ricky Sandberg. Denn die Bedeutung einer regionalen Zusammengehörigkeit, um eine Brücke zwischen Ost und West im äußersten Norden zu schlagen, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dies hat der norwegische Außenminister Thorwald Stoltenberg hervorgehoben, als er die ersten Schritte einer Zusammenarbeit in einer Barents Euro Arctic Region (BEAR) einleitete, die durch die Erklärung im norwegischen Kirkenäs im Jahr 1993 formalisiert wurde. So gab die staatliche Seite den auf regionaler und lokaler Ebene schon begonnenen Kooperationen ein Startsignal, sich weiter zu entwickeln.

Ein Regionalrat, ein Regionskomitee sowie Barentssekretariate wurden eingerichtet, um der Zusammenarbeit der regionalen und lokalen Akteure einen Rahmen zu geben. Von unten trägt eine stetig wachsende Zahl von Institutionen, Gruppen, Bürgerinitiativen, Verbänden und Freiwilligenorganisationen die Zusammenarbeit. Um das übergreifende Ziel der BEAR zu verwirklichen, eine friedliche und stabile Entwicklung in der Barentsregion zu sichern, darin waren sich die unterzeichnenden Außenminister Norwegens, Schwedens, Finnlands und Russlands 1993 in Kirkenäs einig, müssten die kulturellen Beziehungen zwischen den Völkern gefestigt werden. Darüber hinaus müssten die regionalen und lokalen bi- und multilateralen Beziehungen erweitert und drittens die Interessen der Ureinwohner, der Samen, der Nenets und der Komi, berücksichtigt werden. So sitzen Vertreter der Ureinwohner im Regionalrat und im Regionskomitee. Darüber hinaus haben sie ein eigenes Gremium mit einer beratenden Funktion.

Von insgesamt über 1.000 BEAR-Projekten, die auch aus EU-Mitteln finanziert werden, sind 416 multilaterale Kulturprojekte. Bei einer Kulturkonferenz im schwedischen Arvidsjaur in der Region Norrbotten informierte der Kulturchef der Region, Jan Henriksson, jüngst über eines der früh eingeleiteten Barentsprojekte, das von Norrbotten initiiert wurde: das „Euro Arctic Diploma in Cultural Management“. Dabei geht es um eine grenzüberschreitende Ausbildung, um Anzahl und Professionalität kulturschaffender Führungskräfte in der Barentsregion zu erhöhen.

„Allerdings hat die Ausbildung noch ein weiteres Ziel“, unterstreicht Henriksson, „und das ist, die Barentsregion für die Außenwelt zu öffnen, damit wir nie Gefahr laufen, in eine nordliche Provinzialität hineinzusteuern.“ Deshalb finde ein Teil der Ausbildung außerhalb der Barentsregion statt, in anderen dünn besiedelten peripheren Regionen Europas mit einer Barents-ähnlichen Problematik, so etwa in Schottland und in Griechenland.

Die Kontakte dorthin führten auch zu einem gemeinsamen EU-Projekt im Rahmen der kulturökonomischen Forschung. Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang ist der Tagungsort Arvidsjaur von Interesse. Zwar sind die Straßen dorthin meistens menschen- und autoleer und die Landschaften von Wäldern und Seen durchzogen. Aber in der Kommune selbst herrscht reger Betrieb. Früher ein Zentrum für die Samen, wurde Arvidsjaur, heute eine Kleinstadt mit knapp 8.000 Einwohnern, in den Neunzigerjahren für seine Vorreiterrolle als „vernetztes Dorf“ und als Kulturkommune des Jahres 1994 bekannt.

Schon vor der formalen Gründung der BEAR war Jan Henriksson einer der Initiatoren des Barents-Kulturkomitees. Die Mitglieder treffen sich zweimal jährlich, zuletzt im März 2001 im russischen Naryan-Mar, Hauptstadt der autonomen Region Nenetskij, die nur mit dem Flugzeug oder Schiff erreicht werden kann. Straßen oder Eisenbahnen gibt es nicht. Allerdings verzeichnet die Stadt eine Vielzahl kultureller Aktivitäten, die sogar jene der weitaus größeren Städte Murmansk und Archangelsk in den Schatten stellen. Bei dem Treffen des Kulturkomitees in Naryan-Mar wurden einige der Unterschiede im Rahmen der Zusammenarbeit der Barentsregion besprochen, darunter die ungleichen Auffassungen über den Qualitätsbegriff. „Unter unseren russischen Partnern ist es die künstlerische Professionalität, die die Qualität ausmacht“, sagt Jan Henriksson. „Bei uns in den nordischen Regionen dagegen steht das kulturelle Schaffen als Prozess im Vordergrund sowie die Breitenwirkung der Kultur. Wir wollen, dass viele Menschen Kultur schaffen.“

Ebenso gibt es Differenzen in der Definition dessen, was ein Projekt ausmacht. In den finnischen und schwedischen Regionen kommen die Initiativen fast nur von unten, in den norwegischen und russischen Teilen der Barentsregion sind die Projekte mehr eine Sache der Institutionen. „Im nordischen Teil der Barentsregion arbeiten wir mehr horizontal, bei den klassisch ausgebildeten russischen Musikern oder Tänzern dagegen lebt die Erinnerung der hierarchischen Strukturen fort“, sagt Eiskünstler Ricky Sandberg. „Sie warten, dass jemand sagt, was sie tun sollen. Sie sind äußerst fähig, aber haben größere Schwierigkeiten, zu experimentieren. So lernen wir ständig voneinander.“

Um das Grenzüberschreiten zu lernen, ist es entscheidend, die Zentrum-Peripherie-Problematik zu klären. Denn über Jahrhunderte hinweg tauschten die Menschen der Polarregionen ihre Waren auf Märkten entlang den alten Handelswegen in ost-westlicher Richtung. Dies änderte sich, als die nationalen Wirtschaften die Rohstoffe der Regionen entdeckten. Die ost-westlichen Wege wurden geschlossen und die Regionen von den nationalen Zentren gegeneinander ausgespielt.

„Die Bevölkerungen und Ureinwohner der Polarregionen wurden als ‚Bürger zweiter Klasse‘ behandelt. Jetzt wollen wir unsere Geschichte selber erzählen, unsere eigenen Spuren hinterlassen“, empört sich Dan Lundström in seinem Büro im schwedischen Kiruna. Zuletzt als Projektleiter des Media Barents Arctic Film and TV-Development arbeitet er seit 1992 mit dem Ziel, die Barentsregion als „shooting location“ für Film und Fernsehen bekannt zu machen.

Zu dieser Strategie gehört die baldige Einrichtung von vier Filmkommissionen sowie die Ausbildung, um „location services“ in jedem Teil der Barentsregion zu etablieren. Darüber hinaus wird eine eigene Produktion für das Fernsehen gemacht: die Dokumentarfilmserie „–37[o]– Voices from the Edge“. Hier kommen die Einwohner der Barentsregion zum ersten Mal in einem größeren Zusammenhang über ihre eigene Geschichte, ihr eigenes Dasein zu Wort. So ist die Barentsregion ein unbekanntes Land, das die eigenen Bewohner erst entdecken. Für Maria Rydén bietet das weite Land einen unglaublichen Aussichtspunkt: „Ich sitze hier oben wie auf einer Kante und blicke hinunter auf den Rest Skandinaviens und ganz Europa.“