Mit Kafka in die Revolution

Mit der Ausstellung „Murnau Manila Minsk“ im Deutschen Historischen Museum feiert das Goethe-Institut seinen fünfzigsten Geburtstag. Am Teheraner Institut schrieb eine Dichterlesung in den Siebzigern sogar Revolutionsgeschichte

Hans Magnus Enzensberger stellte sich mitten in die Landschaft und heulte minutenlang wie ein Wolf

von BAHMAN NIRUMAND

Der Begriff „Ortskraft“ war mir trotz meines Germanistikstudiums fremd. Es war die Bezeichnung für einheimische Lehrer, die an den Zweigstellen des Goethe-Instituts im Ausland tätig waren. Ich weiß nicht, ob dieser Begriff immer noch verwendet wird. Jedenfalls wurde ich nach Abschluss meines Studiums in Deutschland am Teheraner Goethe-Institut als „Ortskraft“ beschäftigt. Es war Anfang der Sechzigerjahre, eine Zeit, in der ein Auslandsstudium unter iranischen Studenten in höchstem Maße begehrt war, sei es, weil ein Studienplatz im Inland schwer zu erhalten war oder weil die Studienbewerber sich nach Freiheit sehnten und der im Lande herrschenden Diktatur entrinnen wollten. Als ich zu arbeiten begann, überraschte mich die Neugierde der Studenten. Sie wussten zwar, dass sie viel Fleiß aufbringen mussten, um die Sprache zu lernen, ihr eigentliches Interesse galt jedoch dem Land selbst. Während des Unterrichts bedrängten sie mich mit ihren Fragen, sie wollten wissen, ob sie in Deutschland arbeiten dürfen, um ihr Studium finanzieren zu können, ob die Deutschen leicht zugänglich und Ausländern gegenüber freundlich seien, ob es zutreffe, dass deutsche Frauen leichter zu haben seien. Viele fragten mich auch nach der deutschen Geschichte, nach den politischen Verhältnissen und wollten erfahren, ob der Faschismus überwunden sei und ob man vor Übergriffen Angst haben müsse.

Somit bildete das Goethe-Institut für die Studenten nicht nur einen Ort, an dem man die deutsche Sprache lernen konnte, sondern auch eine Zwischenstation auf dem Weg nach Deutschland, eine Insel, auf der ein Windhauch von dem unbekannten Ufer, das sie bald zu erreichen hofften, zu spüren war. Andere Einheimische, die Deutschland aus eigener Erfahrung kannten, betrachteten das Goethe-Institut als einen Ort des geistigen und kulturellen Austauschs, einen Ort, an dem man das Neueste aus Deutschland erfahren oder alte Erinnerungen und Erlebnisse auffrischen konnte. Schließlich bildete das Goethe-Institut für die deutsche Gemeinde in Teheran das eigentliche Zentrum ihres gesellschaftlichen Lebens, das Institut war für sie ein Stück Heimat. Deutsche Diplomaten, Forscher, Lehrer, aber auch Facharbeiter, Monteure, Kaufleute und nicht zuletzt Frauen, die mit Iranern verheiratet waren, waren mehr oder weniger Dauergäste bei den kulturellen Veranstaltungen des Instituts. Diese Heterogenität des Publikums stellte die Programmleiter oft vor schwierigen Aufgaben.

Natürlich hatte zum Beispiel ein Mechaniker, der in Deutschland mit einem relativ geringen Einkommen und einer Zwei-Zimmer-Wohnung auskommen musste, in Teheran hingegen ein großes Haus mit Garten, Swimmingpool und Dienstboten bewohnte, seinen materiellen Status geändert, aber nicht seinen Geschmack und seinen Anspruch an Kultur und Unterhaltung. Doch auch diese Menschen nahmen gerne an den Veranstaltungen teil, selbst dann, wenn das kulturelle Angebot ihren Erwartungen nicht entsprach und sie langweilte. Denn die Kulturveranstaltungen waren zumeist ungeachtet ihres Inhalts ein gesellschaftliches Ereignis. Es gab zumeist im Anschluss an eine Lesung, der Eröffnung einer Ausstellung oder nach einem Konzert ein kaltes Büfett mit diversen Getränken, bei dem man neue Bekanntschaften schließen und Beziehungen anknüpfen konnte. Ich persönlich fühlte mich bei diesem Teil der Veranstaltung nicht sehr wohl, denn nicht selten musste ich mir Klagen der Damen und Herren aus Deutschland über die Faulheit ihrer Dienstboten, über die im Lande herrschende Unordnung, über den Mangel an Disziplin und Sauberkeit anhören. Zum Glück gab es in der deutschen Gemeinde auch Menschen, die voller Neugierde in das Land gekommen waren und mit denen man sich in eine Ecke zurückziehen und fruchtbare Gespräche führen konnte.

An einem dieser Abende war Hans Magnus Enzensberger zu Gast, und ich hatte die Ehre, den großen deutschen Dichter, den ich sehr bewunderte, einzuführen. „Die Verteidigung der Wölfe“ und „Landessprache“ waren bereits erschienen. Ich hatte mich wie für eine Seminararbeit mit großer Mühe, aber auch mit Begeisterung, ohne Rücksicht auf die Hausfrauen und Siemens- und Krupp-Angestellten auf den Abend vorbereitet. Kein Wunder, dass meine Ausführungen bei einem Teil des Publikums Langeweile auslösten. Doch ich tröstete mich damit, dass es dem Dichter bei seiner Lesung nicht anders erging.

Nach der Lesung wurden Getränke ausgeschenkt. Enzensberger wurde von Gästen umringt. Ich hielt mich zurück, wartete auf eine Gelegenheit, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Zu meiner Überraschung kam er bald auf mich zu, packte mich am Arm, zog mich in eine Ecke und sagte: „Möchten Sie noch länger hier bleiben? Wenn nicht, lassen Sie uns abhauen. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Nur müssen Sie einen glaubwürdigen Vorwand finden, um mich hier herauszuholen.“

Wir saßen bis zum nächsten Morgen zusammen. Ich war erstaunt, wie genau er über die Verhältnisse im Iran informiert war. Am nächsten Tag flog er nach Isfahan, wo er sich drei Tage lang diese schönste Stadt des Orients ansehen wollte. Ich wusste, in welchem Hotel er untergebracht war, und wollte ihn überraschen. Als ich am nächsten Tag an seiner Zimmertür klopfte, rief er meinen Namen und bat mich einzutreten. „Ich wusste, daß Sie kommen werden“, sagte er. Er kannte weit besser als ich jede Moschee, jedes Schloss, die berühmte Brücke mit den 33 Säulen und führte mich durch Isfahan. Zwei Tage später fuhren wir gemeinsam mit dem Auto zurück. Unterwegs, als wir durch die Wüste fuhren, ließ er mich anhalten, stieg aus, stellte sich mitten in die Landschaft und heulte minutenlang wie ein Wolf. Die Szene werde ich nie vergessen. Was mag in ihm vorgegangen sein? Beim Abschied in Teheran sagte er mir, Sie müssen unbedingt Material sammeln und ein Buch über Iran schreiben. Ich werde dafür einen Verlag finden. Zwei Jahre später erschien das Buch beim Rowohlt Verlag mit einem Nachwort von Enzensberger, ein Buch, das die Bewegung der Sechzigerjahre in Deutschland mitprägte und auch auf den Iran eine große Wirkung erzielte.

So folgenreich konnte eine Veranstaltung des Goethe-Instituts sein. Aber noch folgenreicher für den Iran war eine andere Veranstaltung. 1977, als im Iran noch jeder veröffentlichte Satz zuvor die Mühlen der Zensur passieren musste, veranstaltete das Goethe-Institut in Teheran eine dreitägige Lesung mit etwa sechzig iranischen Dichtern und Schriftstellern, deren Werke verboten waren, ein recht mutiger Schritt, den die zumeist wirtschaftsorientierte Außenpolitik Deutschlands mit ihrer vorsichtigen, stillen Diplomatie oft vermissen lässt. Der große Saal und der Hof des Instituts reichten für das Publikum nicht aus. Tausende Menschen standen im Regen auf der Straße und lauschten den Worten der Poeten und Erzähler. Diese Dichterlesung war der Auftakt zu jener Volkserhebung, die zwei Jahre später zum Sturz der Monarchie führte. Es ist nicht übertrieben, wenn ich feststelle, dass das Goethe-Institut mit dieser Veranstaltung im Iran Geschichte machte. Die Lesungen wurden auf Kassetten aufgenommen und im ganzen Land verbreitet. Wenig später teilte der Schah in einer Rundfunkansprache dem Volk mit, dass er den Ruf der Massen vernommen habe. Er kündigte eine Öffnung an, es war zu spät.

Ich kehrte 1979, nach vierzehnjährigem Exil, kurz vor dem Sturz des Schahs in den Iran zurück. Der Volksaufstand hatte seinen Höhepunkt erreicht, täglich waren Millionen Menschen auf den Straßen. Nicht ahnend, was uns erwartete, waren wir erfüllt von revolutionärer Euphorie, von Hoffnung auf Freiheit und Demokratie. Auch im Goethe-Institut herrschte Hochbetrieb. Iranische und deutsche Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller, Journalisten gingen dort ein und aus und diskutierten über die Zukunft des Landes. In dieser turbulenten Atmosphäre kündigte das Goethe-Institut einen Kafka-Abend an. Ich war erstaunt. Warum jetzt Kafka, fragte ich mich und machte mich gemeinsam mit einigen Freunden, die ebenfalls aus deutschem Exil zurückgekehrt waren, auf den Weg, um meinen Unmut über das Programm zu äußern. Es entwickelte sich eine heftige Diskussion, wobei meine Argumente mir heute noch peinlich sind, umso mehr als ich Kafka für einen der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts halte. Aber der unbedingte Glaube an die Revolution duldete keinen Zweifel und der Rausch keine ernüchternden Töne. Der Direktor des Instituts, ein sehr belesener, feinfühliger Mann, konnte uns an dem Abend nicht davon überzeugen, dass unser Protest völlig abwegig war. Nachträglich sah ich ein: Kafkas Zweifel und Tiefsinn hätten zwar nicht die Massen, die auf den Straßen mit erhobenen Fäusten und aus voller Kehle „Tod dem Schah“ und „Du bist meine Seele, Chomeini“ riefen, erreichen, wohl aber auf uns ernüchternd wirken können.

Nach dem Sturz des Schahs und der Gründung der Islamischen Republik wurden die kulturellen Aktivitäten des Goethe-Institus stark eingeschränkt, bis schließlich die Verschlechterung der deutsch-iranischen Beziehungen infolge der Mordanschläge in Berlin und des darauf folgenden Mykonos-Prozesses zur Schließung des Goethe-Instituts führten. Erst beim Besuch des Staatspräsidenten Chatami im vergangenen Jahr in Berlin wurde die Wiedereröffnung des Instituts in Teheran vereinbart. Die Realisierung dieser Vereinbarung wäre sicherlich für die Beziehung zwischen Deutschland und Iran sehr hilfreich. Iran und das Goethe-Institut haben eine gemeinsame Geschichte. Sie sollte fortgesetzt werden.