Ode an die Pappendeckel

Die Bahnsteigkarte – ein lange abgeschafftes Relikt der Nachkriegszeit? Keineswegs! Es gibt sie nach wie vor. Sie erlaubt Ahnungslosen in Deutschland besondere Großstadtabenteuer, passt in den Trend neoliberaler Theorien und macht aus Lenin einen großen Mann

von BERND MÜLLENDER

Ach, ihr kleinen Bahnsteigkarten

standet tapfer für das Warten

für das Kommen, für das Gehn

und beglücktes Wiedersehn.

Heut zur Falle umgebaut

seid im Untergrund ihr Maut.

Und die schlauen Ökonömen

können Lenin bös verhöhnen.

(Gedichtpremiere des Autors, 2001)

Aus dicker Pappe war sie und nicht einmal so groß wie ein halber Schokoriegel. Farblich hatte sie etwas von heller Vollmilch. Preis: anfangs zehn Pfennig, später zwanzig. Dafür durfte man, wenn sie der Herr Sperreschaffner mit der Knipszange gelocht hatte, das ganze Riesenreich schmauchender Lokomotiven und kühner TEE-Züge spannen. Und wenn die Oma am Gleis abgeholt war, wurde einem der Pappendeckel (Bahnerjargon) am Ausgang wieder abgenommen.

Die Bahnsteigkarte: ein typisches Nostalgierelikt, aus Zeiten, als es noch „Kilometerhefte“ und „Arbeiterrückfahrkarten“ gab und in Nachtzügen Schilder hingen wie: Wegen Herstellung des Schlaflagers wende man sich an den Schaffner. Begonnen hatte die „Automatisierung der Gleiszugänge“ am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Bahn nicht mehr jeden Fahrgast persönlich aufrufen wollte und stattdessen Kontrollkarten ausgab.

Ihre Existenzberechtigung war immer die Angst vor lichtscheuem Gesindel, das schwarzfahren wollte. 1966/67 läutete die westdeutsche Bundesbahn ihr Ende ein: Versuchsweise wurden Bahnsteige frei zugänglich, im Ruhrgebiet wurden erste „Nachlösewagen“ eingesetzt. Das „offene System“ klappte. Nach und nach wurden die Kontrollhäuschen vor den Bahnsteigen abgebaut. Am 16. April 1974 war das Abschaffen abgeschlossen. Bahnsteigkarten lohnten nicht mehr. Auch Sperreschaffner kosten Geld.

Uns blieb nur noch Lenin. Der große Aufklärer unter den Aufrührern wusste: „Wenn der Deutsche einen Aufstand anzetteln will, kauft er sich erst mal eine Bahnsteigkarte.“ Sprich: Ohne Genehmigung und Paragrafentreue geht im obrigkeitsfreudigen Deutschenlande nix. Nicht mal Revolution.

Und heute, alles vorbei? Von wegen, fragen Sie mal Tatjana Catsch aus München. Die 52-jährige Germanistin hat gelernt, dass im deutschen Untergrund besonderer Kitzel lockt.

Tatjana Catsch geht jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an der Münchner Universität abkürzend durch das U-Bahn-Zwischengeschoss beim Sendlinger Tor. Dort quert sie ein gut zehn Meter langes Stück Weg, das zum Territorium des Münchner Verkehrs- und Tarifverbunds (MVV) gehört. Was Catsch lange nicht ahnte: Dieses Gebiet ist mautpflichtig. Was die Bundesbahn längst abgeschafft hat, lebt hier, im Nahverkehrsverbund, munter weiter.

Eines Tages baute sich am Ausgang ein Kontrolleur vor Tatjana Catsch auf. Keine Fahrkarte? „Ach, ich gehe hier oben nur durch, habe ich gesagt. ‚Ausweis!‘, hörte ich nur. Und wurde abgeführt wie ein Randalierer. ‚Sechzig Mark!‘ “ Aber sie sei doch gar nicht gefahren, verteidigte sich Catsch. Na, dann hätte sie halt eine Bahnsteigkarte lösen müssen, hieß es kühl. „Eine was? Ich wollte es nicht glauben.“

Tatjana Catsch hätte sich nur an den Automaten der S- und U-Bahnen hinabbeugen müssen. Dann hätte sie die entscheidende Taste entdecken können: Bahnsteigkarte 0,20 DM. Sie muss abgestempelt werden und ist laut Aufdruck bis zu 1 Stunde gültig ab Entwertung.

Tatjana Catsch sagt, sie habe sich zuerst sehr geärgert. „Absurd und blöd“ sei das doch, „ein bürokratischer Unfug“. Tatsächlich war der tatnachfolgende Briefwechsel mit der MVV wenig erquicklich, am Ende aber teilerfolgreich. Die sechzig Mark Strafgeld wurden per Gnadenakt auf zwanzig Mark reduziert. Trost fand Tatjana Catsch, als sie ihr Erlebnis dem Kanzler der Münchner Universität erzählte. „Ach“, lachte der, „da sind Sie nicht allein.“ Ein Professorenkollege sei kürzlich beim Schwarzstehen erwischt worden. Auch ihm wurden sechzig Mark abverlangt.

Der MVV sagt, es gebe die Bahnsteigkarte seit Einführung des Verkehrsverbunds zu Olympia 1972: „Weil wir an den Ausgängen gelegentlich Sperrenkontrollen machen. Und damit die Leute nicht sagen können, ach, ich habe nur jemanden heruntergebracht.“ Ansonsten liege „eine eigene Form des Schwarzfahrens“ vor, die sechzig Mark „erhöhtes Beförderungsentgelt“ erforderten. Ausrederesistent eindeutig seien die Beförderungsbedingungen: „Die Fahrt beginnt mit dem Durchschreiten der Bahnsteigsperre.“ Über die Zahl abgestrafter Schwarzpassanten will der MVV keine Angaben machen. 57.150 Stück haben die Münchner zuletzt pro Jahr verkauft: Alle zehn Minuten, Tag wie Nacht, wird eine gelöst – macht 11.430 Mark Umsatz im Jahr.

Auch in Hamburg hängen an vielen S-Bahn-Aufgängen große, verblichene Schilder: Betreten nur mit gültigem Fahrausweis oder Bahnsteigkarte. Ein Überbleibsel von vorgestern? Von wegen, fragen Sie mal Konstanze Hall!

Diese, eine Försterin in Diensten der Hansestadt, war im Besitz einer Monatsfahrkarte, gültig ab 9 Uhr. Eines Tages, lange vor 9 Uhr – nämlich, wie das Protokoll später festhielt, bereits um 8.48 Uhr – erreichte sie den Bahnsteig am Hauptbahnhof. Nicht etwa, um verbotswidrig verfrüht zu fahren: „Ich habe nur auf der Bank gesessen und auf die Bahn gewartet.“ Und plötzlich stand der Kontrolleur vor der 52-Jährigen und machte einen grausigen Fund: unzeitgemäße Existenz! „Sechzig Mark!“

Auch ein Hamburger S-Bahn-Sprecher verweist auf „die Beförderungsbedingungen“; alles sei „ganz korrekt“ verlaufen. In Hamburg kostet die Bahnsteigkarte satte fünfzig Pfennig. Sie sei, heißt es im Regularium, die Karte mit dem „kleinsten örtlichen und zeitlichen Geltungsbereich“ und wird raffiniert wie ein Schnäppchen beworben: „Damit man jemanden vom Zug abholen kann, ohne eine Fahrkarte kaufen zu müssen.“

Der HVV-Sprecher vermutet stolz, es gebe „die Bahnsteigkarte in Hamburg sicher viel länger als die Bundesrepublik“. Und bitte: Nur ihre Existenz ermögliche Abgangskontrollen, die sich – „da muss ja jeder durch!“ – als „relativ effektiv“ erwiesen hätten gegen das Problem des Schwarzfahrens.

Auch über den Preis macht man sich in Hamburg intensiv Gedanken. „Wenn man nur zehn Pfennig nimmt, nehmen die Leute den Automaten zum Geldwechseln, und uns geht das Kleingeld aus. Fünfzig Pfennig ist noch symbolisch, tut aber schon weh.“ Und bei 34.191 verkauften Exemplaren blieben zuletzt gut 17.000 Mark im Säckel.

Es gab sie auch in der DDR. Sogar viel länger als im Westen. Der Reichsbahndienstvorschrift 601 von 1978 entnehmen wir: Mit einer Bahnsteigkarte darf der Bahnsteig nur einmal betreten werden. . . . Bahnsteigkarten gelten nur für den Ausgabebahnhof und berechtigen zur einmaligen Benutzung an dem Tag, an dem sie gelocht sind. Und die Reichsbahn war umsatzfreudig: Für jeden Hund ist eine Bahnsteigkarte erforderlich; aber auch eine gewisse Großzügigkeit: Wird aus Gründen, die die Eisenbahn zu vertreten hat (z. B. bei einer Zugverspätung) der mit dem Betreten des Bahnsteigs beabsichtigte Zweck nicht erreicht, so wird die Bahnsteigkarte von der Aufsicht handschriftlich oder mit einem Stempel wieder gültig geschrieben.

Die DDR gibt es, trotz Bahnsteigkarte, nicht mehr. So sind Hamburg und München die letzten Trutzburgen dieser Ticketspezies im Abenteuerland Nahverkehr. Andere Städte haben sie längst abgeschafft („lohnt doch nicht“) oder nie gehabt. So wie die BVG in Berlin: „So was kennen wir hier nicht“, heißt es offiziell. Doch in der Hauptstadt ist die Lage besonders vertrackt: Das Betreten der Bahnsteige von U- und S-Bahn ist nämlich eigentlich genauso verboten und könnte streng nach Beförderungsbedingungen mit sechzig Mark Geldbuße geahndet werden. Und es gibt nicht mal eine Chance, der Falle per Bahnsteigkarte zu entgehen.

Anders im leichtlebigen Köln. Die Sprecherin der Verkehrsbetriebe KVB staunt: „Bahnsteigkarten? Was für ein Aufwand! Nee, unser Sortiment an Karten ist so schon jrooß genug.“ Außerdem, gibt sie zu bedenken, singe der kölsche Barde Klaus Zeltinger seinen berühmten Rocksong „Isch fahr schwarz met de KaVauBe“ – „von schwarzherumstehen“, argumentiert sie, sei da ja nicht die Rede.

Genau da setzen Fragen ein: Würden Juristen das Delikt wirklich Schwarzstehen nennen, ausdifferenziert vielleicht Schwarzholen und Schwarzbringen? Gilt das Bahnsteigkarteninkasso womöglich als letzter Wegezoll im harmonisierten EU-Europa? Und: Ist es rechtmäßig, ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“ von beförderungsunwilligen Holern oder Bringern zu verlangen? Zweifelsfrei besteht höchstgerichtlicher Klärungsbedarf.

Die Bahnsteigkarte ist ein Stück deutscher Volkskultur. Auch in der Literatur: Bei russischen Dichtern Anfang des 20. Jahrhunderts taucht sie hier und da auf, gepaart mit Verwunderung über dieses pappige Stück Deutschland. Und als Emil in Erich Kästners Roman von 1929 zur großen Reise nach Berlin aufbricht, bringt ihn seine treusorgende Mutter zum Zug, nicht ohne am Schalter für ihren Sohn einen Fahrschein zu besorgen und für sich – natürlich eine Bahnsteigkarte.

In den verklemmten Fünfzigerjahren war sie bei frisch Verliebten richtig beliebt: Im halböffentlichen Raum eines Bahnhofsgeländes ließ sich viel ungenierter knutschen als auf der Straße. Für Abschiedsszenen galt damals ein liberalerer Sittenkodex als im muffigen Alltag. Da waren die zehn oder zwanzig Pfennig eine lohnende Investition.

Heute ist im nordwalisischen Dorf Llanfairpwllgwyngllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch das Platform Ticket des Ortsbahnhofs ein beliebtes Souvenir, weil es, aus gegebenen Gründen, so schön breit ist. Llanfair. . . ist der längstnamige Ort der Welt.

Ja, die Bahnsteigkarte ist unsterblich: Wer heute eine Modelleisenbahnausstellung macht, gibt stilbewusst Bahnsteigkarten als Eintrittsberechtigung aus. Wer als Autotester mal richtig ins automane Schwärmen gerät, schreibt (hier: Autobild) über die niedrigen Betriebskosten: „Bei der deutschen Bahn gibt es dafür gerade mal eine Bahnsteigkarte.“ (Die Verwendung des Präsens mit gut 25-jähriger Verspätung sei geschenkt.)

Und: War und ist der Bahnsteig nicht ohnehin ein ganz besonderer Ort? Ein Vorraum der Entfernung, Pufferzone zwischen der Sesshaftigkeit der Metropole und dem Vagabundentum der Ferne? Ist die Bahnsteigkarte dabei nicht Symbol für ein Stück melancholisch stimmendes Hier und Dort gleichzeitig, an einem wunderbar zwiespältigen Ort zwischen go and stop, zwischen wish and go not?

Ökonomen denken prosaischer. Kürzlich erschien im Kölner PapyRossa Verlag ein Buch, das untersucht, inwieweit marxistisches Gedankengut heute noch taugt: „Politische Ökomonie als Bahnsteigkarte des 21. Jahrhunderts“. Das Buch ist „auf der Suche nach dem Kompass“ und fragt, wohin „eigentlich ein Zug fahren soll, der das Gegenprojekt zur neoliberalen Aufbruchstimmung darstellt“. – Lenineske Gedanken als Revolutionslokomotive. Friedhelm Bihn, Sprecher des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen, argumentiert profaner: „Wenn man mal weiterdenken würde, könnte die Bahnsteigkarte heute“, gerade auf großen Bahnhöfen, „ein Instrument sein zur Bekämpfung der Nichtsesshaften.“

Neoliberale Kreise denken tatsächlich in diese Richtung. In der volkswirtschaftlichen Theorie spricht man von einer Schutzgebühr – gegen dubiose Gestalten, Stricher, fliegende Händler. Somit passt die Bahnsteigkarte zum globalen volkswirtschaftlichen Mainstream, bei dem für alle direkt zurechenbaren Leistungen Gebühren gefordert werden. Es gibt solche Ideen durchaus: Nicht nur für Autobahnnutzung, sondern sogar für Drehkreuze an öffentlichen Parks (eine Stunde Spazierengehen = eine Mark Tarif) oder gar für Laternen, die man durch Münzeinwurf beim Vorbeigehen einschaltet. Die Bahnsteigkarte als Vorbild. Vielleicht kann die Mehdorn-AG Lizenzgebühren erheben?

Und wenn tatsächlich einmal eine Maut für Autobahnnutzung eingeführt wird, werden erfahrene Bahnkunden locker sagen können, ach, so was kennen sie doch seit Jahrzehnten. Tatjana Catsch und Konstanze Hall sogar aus der Opferperspektive. Eines Tages werden Pionierinnen wie sie stolz sein.

BERND MÜLLENDER, 44, ist autofreier Journalist und passionierter Bahnfahrer, wohnhaft im schönen Aachen