: Autos und Utopien
■ Ein neuer Ausstellungsraum in Hamburg beleuchtet Mobiles und den Stalinismus
Wie kommt eine ausgerechnet mit Autos bedruckte Gardine in ein Blumengeschäft an der stark befahrenen Wandsbeker Chaussee? Nein, da ist nicht jemand so ironisch, die Belästigung durch den Verkehr auch noch zu toppen, da ist Kunst in den kleinen Laden eingezogen. Seit März diesen Jahres betreibt Elke Suhr, eine Hamburger Künstlerin, die seit Jahren künstlerisch-kritisch über die viel zu wenig reflektierte kulturelle Leitfunktion des Automobils in unserer Gesellschaft arbeitet, dort den „Einstellungsraum für Kunst im Straßenverkehr – Agentur zur Vermittlung von Projekten zwischen Autofahrern und Fußgängern“.
Zu sehen sind dort ein Video vom rasenden Stillstand eines durchdrehenden Rades und Zeichentafeln zu der gefundenen formalen Ähnlichkeit von philosophisch-mystisch-alchemischen Weltmodellen und dem Benzschen Motorwagen: Bei beiden hat der Mensch unter beziehungsweise hinter sich den feurigen Höllenofen (also den Motor) und vor sich das lichtvolle Versprechen des Paradieses respektive die Scheinwerfer und den Ausblick durch die Windschutzscheibe auf die lockende Ferne. Genaueres dazu kann man bei der Künstlerin erfragen oder auch bei Roland Barthes nachlesen.
Die aktuelle Ausstellung mit dem Titel Short Stories auf der Heide zeigt weitere, weniger direkt automobilbezogene Arbeiten: Eine Betonplastik von Claudia Hoffmann, Filzplastiken und ein Geschichtensuchsystem kachelgroßer Kleinbilder von Llaura Sünner und ein Textbild aus der Liebesbriefserie von Sonia Jakuschewa, die sich auf den jahrzehntelangen Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und der russischen Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé bezieht. Rilke war ein langjähriger Freund des Worpsweder Jugendstilkünstlers Heinrich Vogeler, und es passt zu dem vielleicht etwas überzogenen Theorieanspruch dieses Ortes, dass dessen Sohn, der 1923 in Moskau geborene Jan Jürgen Vogeler zur Eröffnungsdiskussion eingeladen war, um über das Ende der großen Erzählungen zu sprechen, den Tod der Utopie, der in Kunst und Politik nur noch kleine Geschichten zulässt.
Denn der Philosophieprofessor ist ein Zeitzeuge von Glanz und Untergang der Sowjetutopie. Sein Lebensweg spannt sich von der Erziehung an der Komintern-Schule in Moskau über den Einmarsch in Berlin mit den russischen Truppen zum Philosophie-Professor an der Lomonossow-Universität in Leipzig. Er wurde Berater am Institut für Gesellschaftswissenschaften des ZK der KPdSU und Dolmetscher in Gesprächen mit den führenden deutschen Genossen von DKP und SED. Schließlich arbeitete der Studienkollege von Raissa mit an Gorbatschows Perestroika und trat endlich 1990 aus der Partei aus.
Wenig überraschend warnte der alte Kader eindringlich vor der Macht und den Methoden des Stalinismus, lobte die eher sozialdemokratische Vision des „besseren Leninerbens“ Nikolai Bucharin und erklärte Gorbatschows Scheitern als Folge eines zu großen Vertrauens auf die Macht der Parteiführung. „Die Veränderungen hätten revolutionär von unten kommen müssen“, begeisterte sich der sonst nüchterne Philosoph, während der Straßenlärm in den Raum flutete.
Hajo Schiff
Short Stories auf der Heide: Do–So 17–19 Uhr, Einstellungsraum, Wandsbeker Chaussee 11; bis 22. Juli
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