Die vergebliche Suche nach dem Stein der Weisen

Prominente Fußball-Lehrer sprachen in Berlin über die Zukunft des deutschen Fußballs. Gänzlich neue Erkenntnisse hatten sie dabei nicht parat

BERLIN taz ■ 2006 soll das deutsche Nationalteam was reißen. Aber wie? Ein paar Trainer redeten schon mal drüber. Guido Buchwald sprach über seinen linken Fuß. Hans Meyer lobte das Spiel mit Ball. Eduard Geyer legte die Stirn in Falten. Erich Rutemöller verdammte das Gestern. Jürgen Röber langweilte sich ein wenig. Und neben Michael Skibbe türmten sich Holzscheite, so viele Lanzen brach er für die Jugend. Kurzum: Der Bund Deutscher Fußball-Lehrer hatte nach Berlin geladen.

Man konnte sich die Podiumsdiskussion der „hochkarätigen Runde“ auch als Visite im Krankenhaus denken: Ein Patient lag da, der nicht krank ist, aber auch nicht gesund. Beäugt wurde der deutsche Fußball. Wenn es drauf ankommt, schleppt er sich mehr schlecht als recht über den Platz. Nach der Bewährungsprobe ringen alle wieder um eine Diagnose. Was hat er? Und warum strotzen die anderen vor Gesundheit, vor allem die Franzosen? Hans Meyer, im bürgerlichen Leben Trainer der Gladbacher Borussen, trat als Chefarzt auf. Er hob zunächst die gute Heilungschance des Patienten hervor. „Struktur und Interessenlage“ sind in Deutschland super. Auch auf die „Jungens“ kann man bauen. Nicht zu vergessen: „Vom Siegeswillen her sind wir Spitze.“ Deutschland, das alte Mentalmonster, das den anderen den Schneid abkauft. So weit, so gut. Als Meyer aber die Reflexe prüfte, fiel ihm etwas auf: „Wir haben einen Riesennachholbedarf im taktischen Bereich.“ Der Morbus tacticus grassiert, weil: „Überall, wo ich hinkomme, wird zu wenig gespielt.“ Und das Spiel ist die Grundlage, so wichtig wie für den Chirurgen eine ruhige Hand und ein scharfes Skalpell.

Offenbar wird zu oft zittrig mit stumpfem Gerät hantiert. „Der Fußball wird in seine Einzelteile zerlegt, die Einzelteile werden trainiert, und dann versucht man die wieder zusammenzufügen – da fällt man auf die Schnauze.“ Assistenzarzt Skibbe guckte erst verdattert, stimmte dann aber zu. Evanilson, Dede, die hätten am Tag zehn Stunden in den Slums gekickt. Und unsere Burschen? „Drei Stunden die Woche. Die spielen in ihrer Ausbildung 15 Mal weniger als die Brasilianer.“ Längst liegt der deutsche Straßenfußballer in der Prosektur. Und weil er da in Formalin badet und nicht in den Fluten vor der Copacabana, sagte Skibbe: „Wenn man bedenkt, dass es bei uns keinen Straßenfußball mehr gibt, sind wir absolut top.“ Was heißt das für unseren Patienten? Dafür, dass er als übergewichtiger Schüler nur mit Mühe auf den Sportplatz geschickt werden konnte, sind seine Cholesterinwerte nicht schlecht.

Damit sie noch besser werden, observiert der DFB jetzt auch die E-Jugendlichen, neuerdings U12/13 genannt. An 400 Stützpunkten soll mit 1.600 Honorartrainern und 20 Millionen Mark im Jahr jedes Talent früh verarztet werden. Skibbe, auch als Bundestrainer beschäftigt: „Es gibt tausend Projekte, es wird verdammt viel gemacht, nur den Stein der Weisen haben auch wir noch nicht gefunden.“ Vor dieser Art der flächendeckenden Impfung schreckt der brasilianische Jugendliche zurück, weil er sich nicht mit Fußballbeamten herumschlagen will, sondern spielen. Viel spielen. Zwei gegen zwei. Drei gegen drei. Zwölf gegen zwölf. Die Reglementierung trifft ihn früh genug. „Alles, was ich gelernt habe, habe ich im Spiel gelernt“, sagte Meyer. Strukturen, die von oben (DFB) nach unten wirken, zerstören ohnehin die Kreativität.

Irgendwann ist es eh mit der Spielerei vorbei. Wenn die deutsche Jugend den Sprung ins Profiteam schaffen will, ist sie meist zu schwach. Skibbe plädierte deswegen für eine „Spielform, die ihren Fähigkeiten entspricht“, so eine Art Luxussanatorium für schwindsüchtige Talente. Denn ein Hochbegabter „ist in der Regionalliga nicht gut aufgehoben“. Das brachte Oberpfleger Eduard Geyer auf den Plan, der sich vehement gegen diese Form der Verhätschelung aussprach. „Warum sollte ich die hofieren und weiter fördern, wenn allein Willensstärke und Charakter gefragt sind, sich bei den Männern durchzusetzen.“ Azubi Buchwald nickte. Rutemöller sagte nur: „Wir müssen vorwärts gucken.“

Im Jahr 2006 wird sich nicht viel geändert haben, trotz der Internate, die derzeit wie Pilze aus dem Boden schießen und als Allheilmittel verkauft werden. „Neue Gesichter werden wir in den nächsten fünf Jahren nicht sehen, außer wir deutschen neue Asamoahs ein“, orakelte Meyer. Die Runde blickte einigermaßen ratlos auf den Patienten. Der wartet weiter auf eine Therapie.

MARKUS VÖLKER