nebensachen aus tokio: Von Dämonen, Hermes-Halstüchern und Wirtschaftschaos
Gruselgeschichten für erhitzte Gemüter
Es ist heiß in Tokio. So heiß, dass sich viele Leute in ihren gekühlten Häusern verstecken und sich den Tag vor dem Bildschirm mit Geister-und-Dämonen-Filmen vertreiben. Das soll die beste Medizin gegen die Hitze sein, weil nur das kalte Schaudern, das den Rücken runterkriecht, Erleichterung bringt.
Gegen den Rat meiner Freunde wagte ich es, am Samstag einen kurzen Spaziergang ins bekannte Tokioter Einkaufsviertel Ginza zu unternehmen. Dort gibt es neuen Stoff für Gruselgeschichten und ein paar aufschlussreiche Betrachtungen über einige Widersprüche im Land der aufgehenden Sonne. Beginnen wir mit den Widersprüchen!
Gleich neben dem U-Bahnausgang Ginza hat das französische Modehaus Hermes übers Wochenende eine neue Filiale eröffnet. Und da standen in der brütenden Hitze weit mehr als 100 Leute geduldig unter der sengend heißen Sonne, um Eintritt in das Luxusetablissement zu erhalten. Der Renner sei eine exklusive Damenhandtasche, die für etwas mehr als 500.000 Yen (9.500 Mark) verkauft werde. Um die Foulards zwischen 800 und 1.200 Mark würden sich die KundInnen ebenfalls reißen, erzählte eine Verkäuferin. Der Konsumrausch scheint ungebrochen, wenn es um superteure Luxusartikel geht, obwohl das Land schon zehn Jahre in einer Wirtschaftskrise und derzeit wieder in einer Rezession steckt.
Über die Rezession sprach nur einen Steinwurf vom Hermes-Geschäft entfernt die bekannte sozialdemokratische Politikerin Takako Doi. Sie stand auf einem für den laufenden Wahlkampf zu den Oberhauswahlen umgebauten Kleinlaster und wetterte gegen das Wirtschaftsprogramm der Regierung von Ministerpräsident Koizumi, das das Land ins Chaos stürze. „Es droht ein Katastrophe auf dem Arbeitsmarkt!“ rief Doi den schwitzenden Passanten zu, die nur für ein paar Augenblicke stehen blieben, um wieder Zuflucht in den gekühlten Räumen der Geschäfte zu suchen. Frappant war es schon, mit anzusehen, wie geduldig die Leute auf den Luxusfoulard von Hermes warteten und wie ungeduldig sie der Botschaft der Oppositionspolitikerin zuhörten.
Dabei sind im Juni offiziell mehr als 110.000 Menschen arbeitslos geworden, und in den letzten drei Monaten sind rund 840.000 Menschen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt worden, die in keiner Arbeitslosenstatistik auftauchen. Es sind Frauen, Zeitarbeiter und ältere Angestellte, die in Frührente geschickt worden sind. Allein diese Zahlen sollten eigentlich reichen, um den Menschen auch ohne Dämonengeschichten einen kalten Schauder über den Rücken zu jagen. Aber derzeit scheint es, als ob schlechte Nachrichten zur Konjunktur und zum Arbeitsmarkt die Stellung der neuen Regierung Koizumis stärkten.
Ministerpräsident Koizumi, der nur einen Tag zuvor an genau derselben Stelle seine Wahlkampfrede gehalten hatte, vermochte eine riesige Zuhörerschar zu fesseln. Dass die Polizei am Rande der Menge einen 50-jährigen Mann, der angeblich einer ultrakonservativen Gruppe angehört, an einem Selbstmordversuch hindern musste, ging in der Begeisterung für den Ministerpräsidenten fast unter. Es scheint, dass die derzeitige Sommer- und Wahlkampfhitze in Tokio Menschen zu Taten treibt, die in Zukunft wieder Stoff für Gruselgeschichten abgeben. Gegen diese Hitze hilft wirklich nur kaltes Schaudern. ANDRE KUNZ
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