: Wer ist richtiger Jude?
Die Süssmuth-Kommission folgt bei ihrer Empfehlung der orthodoxen Linie des Zentralrats und bezieht damit Stellung gegen liberale und progressive Juden. Der Kreis der zuzugsberechtigten Juden aus Russland würde damit künftig eingeschränkt
von CHRISTIAN SEMLER
Das Interview war nur 19 Zeilen lang und gut versteckt im Spiegel vom 25. Juni – aber was der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, dem Nachrichtenmagazin mitzuteilen hatte, betrifft eine für das jüdische Selbstverständnis zentrale Frage: Wer ist Jude?
Anlass des Interviews waren die Empfehlungen der Süssmuth-Kommission „Zuwanderung gestalten, Integration fördern“, an deren Ausarbeitung auch der Zentralrat der Juden in Deutschland beteiligt war. Im Rahmen dieser Empfehlungen (abgedruckt auf Seite 185 f. des Berichts) wird auch die Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion behandelt. Diese Einwanderergruppe genießt den Status von Kontingentflüchtlingen, hat also Anspruch auf unbegrenztes Aufenthaltsrecht und auf Integrationshilfen einschließlich Sozialhilfe. Die Regelung war zunächst in der demokratisch gewendeten DDR beschlossen und im Januar 1991 auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt worden.
Die Gründe lagen auf der Hand: schlechtes Gewissen angesichts des deutschen Massenmords an den Juden und die Absicht, etwas für die Lebensfähigkeit der jüdischen Gemeinden in Deutschland zu tun. Von 1991 bis März 2001 stellten laut Süssmuth-Bericht 217.854 Personen Aufnahmeanträge, Zusagen der Länder gab es für 164.707 der Antragsteller, 130.752 jüdische Menschen aus der vormaligen Sowjetunion sind in diesem Zeitraum eingereist. So weit, so erfolgreich. Was aber sind die Schwierigkeiten?
Nach der bislang geltenden Regelung sind alle Personen zuwanderungsberechtigt, deren Pässe einen jüdischen Nationalitätsvermerk tragen oder die mindestens einen jüdischen Elternteil haben. Diese Regelung widerspricht aber dem jüdischen Gesetz, der Halacha, nach der Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren oder nach festgefügten Regeln vor einem Rabbinatsgericht, dem Beth Din, rechtsgültig zum jüdischen Glauben konvertiert ist.
Zwischen der Anerkennungspraxis der deutschen Behörde und dem halachischen Selbstverständnis des Zentralrats und einer Reihe jüdischer Gemeinden tat sich ein Widerspruch auf. Viele Immigranten, die nicht von einer der Gemeinden aufgenommen wurden, fühlten sich diskriminiert. Eine zum Teil heftige Polemik über angebliche und wirkliche Juden entbrannte und verschärfte die sowieso schon bestehenden kulturell-sozialen Probleme bei der Integration der jüdischen Zuwanderer.
Es war der Zentralrat selbst, der die Anwendung der halachischen Bestimmung für die künftige Immigration forderte. Die deutschen Mitglieder der Kommission stimmten der Initiative Spiegels bereitwillig zu, sie sahen die Regelung als innerjüdische Angelegenheit an und wuschen ihre Hände damit in Unschuld.
Aber die von der Kommission vorgeschlagene Lösung schafft jetzt neue Probleme. Im Aufbau, dem deutsch-amerikanischen jüdischen Organ wurde in der Ausgabe vom 5. Juli unter der Schlagzeile „Eine Bombe für das jüdische Selbstverständnis“ die Neuregelung scharfer Kritik unterzogen. Der Autor des Artikels, Rainer Meyer, wies darauf hin, wie viel Unverständnis die Empfehlung der Kommission weltweit ausgelöst habe, selbst in Israel, wo die jüdische Zuwanderung nach Deutschland immer mit gemischten Gefühlen gesehen wurde. Kommt ausgerechnet einer deutschen Kommission das Recht zu, zu bestimmen, wer Jude ist und wer nicht? Über in diesem Zusammenhang deutscherseits geäußerte Befürchtungen, die bestehenden Regelungen erleichterten es russischen Mafiosi, sich bei der Immigration als Juden zu tarnen, kann Meyer sich nur amüsieren. Solche Einwanderungskandidaten würden sich dann in Russland eben eine jüdische Mutter beschaffen.
Die Auslegung der halachischen Bestimmung ist seit langem Streitpunkt zwischen orthodoxen und liberalen beziehungsweise progressiven Mitgliedern der jüdischen Gemeinden. Schon in den 70er-Jahren hat das amerikanische Reformjudentum die halachische Definition erweitert: auch wer einen jüdischen Vater hat und jüdisch sozialisiert wurde, gilt als Jude. In der Zeitschrift Golem vom Dezember 1999 gibt Iris Weiss, jüdisch-feministische Autorin, ihre Antwort an die Orthodoxie: „Jude/ Jüdin ist, wer Judentum ernst nimmt und darauf eine persönliche Antwort durch sein/ihr Leben gibt.“
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