: Selbstkritik im Stabsquartier
Erstmals räumen auch ranghohe russische Militärs Menschenrechtsverletzungen bei „Säuberungsaktionen“ in Tschetschenien ein. Innenministerium tritt auf die Bremse
MOSKAU taz ■ Erstmals in der Geschichte des russisch-tschetschenischen Konflikts haben in diesem Monat Menschenrechtsverletzungen bei der so genannten „Säuberung“ tschetschenischer Dörfer von angeblichen Rebellen durch russische Soldaten sogar moskauhörige tschetschenische Würdenträger empört. Und das in einem Maße, dass sich ein führender föderaler Militär entschuldigen musste.
Ausgesprochen wurde die Entschuldigung vergangenen Mittwoch von Viktor Kasandsew, seines Zeichens General und Repräsentant des Präsidenten im südlichen Oberverwaltungsbezirk der Föderation. Gestern sollte in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny das Kommando der an den Säuberungen beteiligten Sondereinsatztruppen vor Kasandsew Rechenschaft ablegen. Gehört wurde auch der für Tschetschenien zuständige Staatsanwalt, Viktor Dachnow. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass es bei der Operation in den Dörfern Verletzte und materielle Schäden gegeben habe, die Regelverstöße trügen aber vereinzelten Charakter.
Ganz anders klang es nach den Aussagen der Bewohner der tschetschenischen Dörfer Assinowskaja und Sernovotsk. Ihnen zufolge hatten in den ersten Julitagen föderale Soldaten dort etwa 1.500 Männer und Jungen zusammengetrieben und in provisorische „Filtrationslager“ gesperrt, wo sie – unter anderem mit Elektroschocks – schwer gefoltert worden seien. Häuser seien geplündert und eine Schule und ein Krankenhaus zerstört worden. Dutzende von Zeugen berichteten, dass die Soldaten in etwa 100 Panzerwagen mit verhüllten Nummernschildern angekommen seien.
Der personelle und materielle Aufwand bei solchen angeblichen Säuberungsaktionen steht normalerweise in keinem Verhältnis zu ihren Resultaten. Auch diesmal konnte das Kommando der Einsatztruppe nicht vermelden, ob es Terroristen gefangen oder sonst etwas Verdächtiges entdeckt habe. Dagegen berichteten russische Menschenrechtler, dass in den beiden Dörfern während der Säuberung mindestens fünf Menschen ermordet wurden und 20 vermisst sind.
Während sich Kasandsew entschuldigte, machte General Wladimir Moltenskoi, Kommandeur des nordkaukasischen Wehrkreises, in der russischen Garnison Chankala in einer Rede vor Untergebenen ein beispielloses Eingeständnis. „Diejenigen, die Haussuchungen in Assinowska und Sernovotsk vornahmen, haben diese auf eine rechtswidrige Weise durchgeführt. Sie haben diese Orte verwüstet und hinterher so getan, als ob sie von alledem nichts wüssten“, sagte Moltenskoj und sprach von „Verbrechen in großem Maßstab“.
Aber schon am selben Abend war der General offenbar zurückgepfiffen worden. Er korrigierte sich: Man könne nicht von einem „Verbrechen“ an sich sprechen, sondern nur von „Regelverletzungen einzelner Soldaten“. Nicht allzu belastbar scheint auch die Aussage von Putins Tschetscheniensprecher Sergej Jastrzembski zu sein, der letzte Woche erklärt hatte, das Militär werde die Zweckmäßigkeit solcher Massensuchaktionen überdenken. Schon am Donnerstag nach diesen Bekenntnissen wurden drei weitere tschetschenische Dörfer Säuberungen unterzogen: Starye Atagi, Vedenow und Tsotsin Yurt.
Offenbar ist das russische Innenministerium entschlossen, der neuartigen Welle der Selbstkritik unter hohen Armeeangehörigen ein Ende zu setzen. Es erklärte, dass jegliche öffentliche Kommentare von Verantwortlichen und Politikern zu den Säuberungen als „gesetzwidrige Aktionen“ betrachtet würden, ehe die gerichtliche Untersuchung beendet sei. BARBARA KERNECK
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