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Crossover revisited

■ Eklektizismus der frühen 90er: „Living Colour“ in der Fabrik

Ende der 80er Jahre begann Rock einmal mehr zu stinken, zeichnete sich vor allem durch geschmacklose Frisuren und ebensolche Gitarrensoli aus, und Seattle war noch eine ziemlich unbekannte Stadt im Nordwesten der USA, da schickten sich ein paar New Yorker Typen an, ihn zu retten: Living Co-lour. Mit ihrem Mix, der harte Gitarren, funkige wie brachiale Rhythmen und zwischen Soul, Rap und Rock wechselnden Gesang verband, bereiteten sie einem neuen Genre, dem Crossover, den Weg. Was Living Colour und geistesverwandte Bands wie 24-7 Spyz und die Red Hot Chili Peppers lostraten, war indes mehr als eine weitere Rettung des (Mainstream-) Rocks vor der tödlichen Langeweile. Das Überschreiten von Genregrenzen spiegelte auch eben die zu jener Zeit einsetzende Entwicklung innerhalb der Popkultur wider, die dann Rage Against The Machine oder auch den Erfolg von Eklekti-zisten wie Beck überhaupt erst möglich gemacht haben mag.

Plötzlich rockten Aerosmith mit Run DMC, Mick Jagger versuchte zu rappen, und Tone-Loc machte aus dem Rockklassiker „Wild Thing“ einen kickenden HipHop-Track. Alles war erlaubt, so hieß es, und fragwürdige Kategorien wie Underground/Overground, schwarz/weiß, Kommerz/Independent begannen sich aufzulösen. Damit standen und stehen Living Co-lour in einer Tradition, die mindes-tens bei Jimi Hendrix' Band Of Gypsies beginnt und sich über Mothers Finest und George Clinton bis in die New Yorker Szene der Knitting Factory und der Black Rock Coalition fortsetzt. In diesem Umfeld formierte sich Living Colour 1985.

Nachdem die vier Musiker zunächst in eher loser Verbindung miteinander arbeiteten, konnten sie, unter anderem durch die Vermittlung Mick Jaggers, Anfang 1988 ihr Debüt Vivid veröffentlichten. Damit schafften sie trotz anfänglichen Widerstands seitens MTV und kommerzieller Radiosender den Durchbruch. Vivid und das zweite Album Time's Up brachten ihnen Platin, Grammies als bester Hardrock Act und weitere Auszeichnungen ein – Living Colour wurden zum Aushängeschild des Crossover. Nach langjährigem Touren und dem heftigen Album Stain, das 1993 veröffentlicht wurde, löste Gitarrist Vernon Reid die Band im Januar 1995 auf.

Seither hat sich viel getan, der Begriff Crossover ist – in der damaligen Form – Geschichte, und Living Colour sind nicht mehr all zu bekannt. Im letzten Jahr hat sich die Band zu einigen USA-Konzerten neu formiert, jetzt spielen sie ihre erste Europatournee seit sieben Jahren. Mit einer Retro-Veranstaltung ist aber nicht unbedingt zu rechnen. Living Colour haben nichts an Kreativität eingebüßt und dürften zudem darauf bauen, dass ihre Musik nicht zur Evergreen-Veranstaltung taugt, weil sie einfach zu sehr rockt. Gerd Bauder

heute, 21 Uhr, Fabrik

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