: Arztnotstand in Wilhelmsburg
Ausverkauf der medizinischen Versorgung droht. Praxen werden aus billigen Stadtteilen zunehmend in wohlhabende Viertel verlagert ■ Von Sandra Wilsdorf
In Wilhelmsburg sterben die Menschen doppelt so oft an Diabetes und den Folgekrankheiten und häufiger an Bronchialkarzinomen als in wohlhabenderen Hamburger Stadtteilen. „Wir brauchen mehr Ärzte und nicht weniger“, folgert der Internist Bernd Kalvelage. „Zukunftsvision: Wilhelmsburg ohne Ärzte?“ warnen Kalvelage und andere Wilhelmsburger Ärzte.
Schon jetzt gebe es zu wenig Psychiater. Und von den ehemals drei Augenärzten sei nur noch einer da. Auch ein Kinderarzt hört demnächst auf. „Es steht ein Generationenwechsel an, und wenn der mit einem Ausverkauf einhergeht, dann können wir hier nur noch die absolute Basisversorgung leisten“, fürchtet Kalvelage.
Denn es komme immer wieder vor, dass Ärzte eine Praxis kaufen und dann mit der Zulassung über die Elbe entschwinden. Denn in Wilhelmsburg gibt es mehr Arbeitslose, mehr Sozialhilfeempfänger, mehr Ausländer und mehr AOK-Versicherte. Das merken die Ärzte, denn gleiche Leistung gibt weniger Geld. Für eine Magenspiegelung erhält ein Arzt laut Kalvelage beispielsweise 70 Mark für einen AOK- und 100 Mark für einen Ersatzkassenpatienten. Weil sich die Preise für Praxen aber nach deren Ausstattung und Umsatz ergeben, lassen sich in Wilhelmsburg Schnäppchen machen: Hier gibt es die Praxis billig, aber woanders lässt sich bei einer Mischung mit reichlich Privat- und Ersatzkassenpatienten mehr Geld verdienen.
Der Zulassungsausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) ist dagegen machtlos. Denn Hamburg zählt als ein Zulassungsgebiet. Es gibt keine Analyse über die Ärztedichten der Stadtteile, geschweige denn eine Bedarfsplanung. Allerdings ist dem Ausschuss das Problem bekannt, und er erwägt, die Zulassung zumindest für eine bestimmte Zeit an den Stadtteil zu binden.
Ansonsten hält KV-Pressesprecher Stefan Möllers den Wilhelmsburger Ärzten entgegen: „Es gibt dort viele Sozialhilfeempfänger, und die wiederum werden direkt von der Stadt und zusätzlich zum Budget bezahlt.“ Außerdem sei es zumutbar, dass die Wilhelmsburger auch mal nach Harburg fahren. Er hält es im Übrigen für eine politische Aufgabe, den Stadtteil attraktiver zu machen.
Das finden die Wilhelmsburger Ärzte auch und haben sich an die gesundheitspolitischen Sprecher der Bürgerschaftsfraktionen gewandt. Die haben erklärt, sich dafür einsetzen zu wollen, dass die Arztdichte mindestens auf dem heutigen Stand bleibt und dass Ärzte, die in Wilhelmsburg eine Praxis gekauft haben, sie nicht in einen anderen Stadtteil mitnehmen dürfen. Außerdem soll Wilhelmsburg eine regionale Gesundheitsstatistik und Bedarfsplanung erhalten. Ein Gesundheitsführer Wilhelmsburg soll die Menschen darüber hinaus über das bestehende Angebot informieren. Die CDU ist außerdem dafür, dass Ärzten die Miete nicht mehr erhöht wird, wenn sie Wohnraum in eine Praxis umwandeln.
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