: Die Prüfung, ein Duell
taz summer school, Teil 1: Der einsame Student. Er ist froh, geleitfrei studieren zu können. Er hasst Pragmatiker und Bachelor. Und entwickelt einen irrationalen Sadismus gegen den Prüfer. Eine Replik
von SVEN BURGHARD
Wenn repräsentative Vertreter des akademischen Milieus über das mythisch aufgeladene Phänomen „Prüfung“ diskutieren, dann kristallisieren sich in der Regel drei Positionen heraus: die des konservativen Henkers, des Studierenden als Opfer-Lämmchen und, als drittes, die des beruhigenden Onkels, der dem wimmernden begabten Kind als jovialer Helfer zu Leibe rückt. Botschaft des letzteren ist: „Es geht doch um die Sache, Kind!“
Der Pragmatiker plädiert für ein An-die-Hand-Nehmen, für ein Studieren à la Lernabschnitt-für-Lernabschnitt. Er interessiert sich in seiner realistischen und zugleich analen Ausrichtung für das, was unästhetischerweise hinten raus kommt. Deshalb will der gute Onkel den geistigen Verdauungstrakt des Studierenden auch schon sehr früh mit dem so genannten Bachelor anregen – als Abführmittel. Damit StudentIn zu häppchenweisen, konditionierten Erfolgserlebnissen gelange, die sie in freudige Mittelmäßigkeit versetze.
Der joviale Onkel, vor dem uns die Eltern immer gewarnt haben, kann nicht fassen, dass gewisse Studierende Vorteile des einsamen Studierens „genießen“. Gerade das „Auf-sich-alleine-Gestellt-Sein“ betrachten diese als Qualität eines Hochschulstudiums. Dabei handelt es sich übrigens um StudentInnen, die jene hoch gelobten „korrespondierenden KommilitonInnen“ eher als Qual empfinden. Onkelchen negiert diese Studenten, weil er ja schon immer gewusst hat, dass man „das häufig in den Semesterferien nicht durchsteht, so (ganz allein) als Einzelkämpfer mit Thema, Fragestellung und dem korrekten Anbringen von Fußnoten“. Onkels Auftritt kann den versteckt-autoritären Gestus des Sozialarbeiters nicht leugnen. Man hört die abscheuliche Stimme von Paukern, die plötzlich kumpelhaft-verbrüdernd raunten: „Ey Leute, seid mal ehrlich, Erfolge fallen ja nicht vom Himmel. Aber wenn ihr euch zusammentut . . .“
Versuchen wir ein Fazit der Phänomenologie des universitären Pragmatikers. Er dient sich dem patriarchalischen Prüfer wie dem angstneurotischen Studenten als Helfer an. So zieht er versöhnlerisch dumpf in die Redeschlacht um die schlechte alte Kontrolle des Wissenserwerbs. Beide Seiten fordert er auf, „ideologisch abzurüsten“, wie er es nennt, damit Examina ihre Bedeutung eines „Gottesbeweises“ endlich verlieren. Er will die Angst-Zuckungen des Prüflings eindämmen und die Hysterie zitternder Nerven abmildern. Kurz: Er hasst den Körper und den Schweiß – ich aber liebe ihn, weil ich empfinden, genießen, erleiden und erdulden kann.
Gerade in der schmerzlich-schwülen Atmosphäre des Prüfungsdrucks blühe ich auf, freilich nicht mit dem masochistischen Ziel zu scheitern, wie mir der stillose Auf-die-Schulter-Klopfer unterstellt, sondern um einen imaginären Vatermord am Prüfer vorzunehmen. Im Gegenzug gönne ich mir gerne die Freiheit, den jeweiligen Prüfer zu quälen. Meine Devise lautet dabei: Seinen blinden Fleck suchen, ihn mit nebensächlichen Fakten verwirren, ihn mit einer putzigen Stutzigkeit ausbluten lassen, penetrantes Nachfragen veranstalten, auf dass der Dozent nicht mehr weiß, auf welche Wissensbasis er bei all der Relativität zurückgreifen kann.
Ziel des Spielchens ist, den Kontrolleur in eine Form von Schizophrenie zu bringen, in der er erkennt, dass alle Begriffe sich selbst aufheben und nur mehr Zirkelschlüsse existieren. Herrschaft der totalen Reversibilität. Anarchie. Ich plädiere für einen irrationalen Sadismus dem Prüfer gegenüber, für den Kitzel einer provozierten Duell-Situation: Auch er, der Prüfer, mag für den Bruchteil einer Sekunde Prüfungsangst spüren. Ich fungiere dabei als der dilettantische, nicht schwimmende Skorpion, der des Froschs respektive des protegierenden Profs bedarf, um ans andere Ufer, sprich über formale Prüfungs-Hürden zu gelangen – freilich nicht ohne ihn, Professor Frosch, zu piesaken.
Nun, wird man einwenden, dieser Prüfling sei wohl nur eine Ausnahme, ein verstiegener Magistrand aus philosophischer und/oder literaturwissenschaftlicher Fakultät – vergleichbar etwa mit Thomas Meineckes „Tomboy“-Studentinnen à la Frauke & Vivian. Recht hat er, dieser Kritiker. Aber diese Ausnahme genügt, um als vierter in unserer altbekannten Runde von Henker, Lämmchen und Onkel Oberschlau Platz zu nehmen. Denn der einsame Student hat es wohl als einziger geschafft, die stereotypen Rollen von Prüfer-Herr und Prüfling-Knecht zu durchbrechen. Angespornt durch das akademische Kapital seiner Fakultät, das vom Ordinarius bis zum HiWi weder das Streber-Pathos der Natur- und Wirtschaftswissenschaften oder der Juristerey besitzt noch das linksbornierte Engagement der Sozialwissenschaften.
Ihm ist eher eine müde, unglaublich angenehme spätbürgerliche Dekadenz zu Eigen, die er als Sekundärtugend seiner akademischen Umgebung extrahiert. Da wäre zum einen der Schlaganfall-geplagte Prof, der das Gefühl vermittelt, als befände er sich in der ostwestfälischen Provinz im Exil, die er aus dem alpinen München kommend, in das er sich zur Rekonvaleszenz zurückzieht, 14-tägig besucht, um acht Semesterwochenstunden abzuhalten. Da wäre oder besser war zum anderen der Pariser Exilant, der eine ähnliche Praxis betrieb, freilich nicht aus gesundheitlicher, sondern ästhetischer Motivation, und der nun sein Herz in Heidelberg verloren hat. Dazu gehören, ehe die Juniorprofs ihre Existenzwiese wegrationalisiert haben werden, nicht mehr ganz junge, dafür umso depressiverere Habilitanden. Fazit: Es trägt sich zu, die Dramatik einer wahren Versuchsstation für Weltuntergänge, deren moribundes Personal bisweilen eines verdient: den Stich des Skorpions.
Sven Burghard, 22, Student, antwort auf Onkel Christian, der im taz.mag vom 30. Juni forderte, die Prüfung zu entideologisieren.
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