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Tanz den Adolf Hitler!

An den Kraftwagen ist neuerdings ein roter, drehbarer Pfeil angebracht, dessen Stellung zeigt, welchen Weg der Wagen nehmen wird: Hans Ulrich Gumbrechts Montage der Gleichzeitigkeit „1926. Ein Jahr am Rand der Zeit“

Nervenden Gutmenschen die Zitate aus dem Buch des Bösen um die Ohren hauen

„Man sollte das Gefühl haben“, so Hans Ulrich Gumbrecht über das Ziel seines neuen Buchs, „im Jahr 1926 zu sein.“ Eine klare Aufgabenstellung, aber ist sie auch erfüllbar? Allerdings, Gumbrechts Bild von „1926. Ein Jahr am Rand der Zeit“ versteht sich als Experiment in Gleichzeitigkeit. Keine Chronologie wird entfaltet. Stattdessen reihen sich austauschbare Kapitel aneinander, die „Ozeandampfer“ heißen, „Stierkampf“, „Bars“ oder „Streik“. Gumbrecht bereitet Dispositive und Codes einer Zeit auf und stellt Material zur Verfügung: Eine „historische Umwelt präsent zu machen“ ist seine weiter gehende Absicht. Er fordert seine Leser auf, in seinem Text hin- und herzuspringen, Links zu folgen, zu zappen.

Auch sonst erweist sich Gumbrecht als ausgesprochen aktuell: Für den Literaturwissenschaftler, der an der US-Universität Stanford lehrt, haben die Grenzen zwischen E und U scheinbar keine Bedeutung. Boxen, Pomade, Sechstagerennen erhalten bei ihm so viel Raum wie Heidegger, Borges, Hemingway. Er analysiert Texte argentinischer Tangos ebenso wie kulturphilosophische Traktate: Interdisziplinär vermittelt Gumbrecht zwischen 1926 erschienenen Werken wie dem Film „Metropolis“ und dem Kinderbuch „Pu der Bär“, wie Adolf Hitlers „Mein Kampf“ und den „Sieben Säulen der Weisheit“ des Lawrence von Arabien. Die Pomade in den Haaren der jungen Männer von Buenos Aires glänzt ebenso wie Bertolt Brechts schwarze Lederjacke und die Frisur des Rudolfo Valentino. Für Gumbrecht sagen diese reflektierenden Oberflächen so viel über den beginnenden Selbstinszenierungskult der Moderne aus wie der Look der Protagonisten in Thomas Manns Erzählung „Unordnung und frühes Leid.“

Kein „Woher wir kommen, wohin wir gehen“ bietet „1926“ – und auch keine großen Ereignisse. Das Buch beschreibt die Diskurse eines recht unscheinbaren Jahres. „Es scheint zu den sehr wenigen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zu gehören“, so Gumbrecht, „dem noch kein Historiker spezifische hermeneutische Relevanz zugeschrieben hat.“ Willkürlich, sagt er, sei 1926 ausgewählt. Allerdings profitiert das Experiment ungemein von der Tatsache, dass es in einer Zeit des Friedens angesiedelt ist. Auch dadurch wirken die kulturellen Knotenpunkte in Gumbrechts Feld so vital und verwandt. Synchron lesbar sind Buenos Aires, New York, Paris, Madrid, Berlin. Dieser Blick über die Grenzen der Kulturen ist die eigentliche Stärke der Studie. Vielleicht musste wirklich ein in Kalifornien lebender deutscher Romanist kommen, um die deutsche Geschichtswissenschaft aus dem Klammerblues mit der eigenen Nation zu befreien.

Mit den Texten eines brasilianischen Journalisten, eines spanischen Kunstkritikers, eines US-Lyrikers zeigt Gumbrecht, dass 1926 Wirklichkeitserfahrung immer auch das Gefühl eines elementaren Ordnungsverlusts umfasste. Das Bild des „unsicheren Bodens“ bringt dies auf den Punkt: Ernst Jünger entwickelt es in Hinblick auf die Erschütterungen der Erde in der Materialschlacht des Ersten Weltkriegs. In den Tanzcafés der Metropolen macht das populäre „parquet lumineux“ den Verlust sicheren Bodens zum ekstatischen Vergnügen. Und für die zahllosen Passagiere von Ozeandampfern ist Schlingern Normalität.

Schlagseite hat Gumbrechts Buch allerdings selbst. Auch wenn Gumbrecht natürlich nicht ganz an den Frauen von 1926 vorbeikommt, stammen alle behandelten Schlüsseltexte doch von Männern: Thomas Mann, D. H. Lawrence, Hemingway, Heidegger, Jünger. Der scheinbar innovative Materialkorpus wirkt dadurch reduziert. Ob sich das Gefühl einstellt, im Jahr 1926 zu sein oder nicht: es ist das Jahr der weißen Männer.

Einen zentralen Platz in dieser Männerriege hat der Autor Adolf Hitler. Langzitat nach Langzitat präsentiert Gumbrecht aus „Mein Kampf“. Den Führer in spe zum Protagonisten zu machen ist tatsächlich notwendig: Ausschließlich Tangosänger, Tänzerinnen und Toreros vorzuführen würde 1926 in eine bunte Nummernrevue verwandeln. Spätestens wenn es dann allerdings heißt: „Mit ähnlichem Scharfblick analysiert auch Adolf Hitler die Krise im Verhältnis zwischen Staat, Rechtswesen und Individuum“, gewinnt man den Eindruck, als genieße es Gumbrecht, nervenden Gutmenschen die Zitate aus dem Buch des Bösen um die Ohren zu hauen.

Ein bisschen fragwürdig ist denn auch das letzte Kapitel dieser Montage, die sonst so furios operiert. Etwas verstaubt und dann doch ziemlich didaktisch wirkt Gumbrechts Abschlussdiskussion von Heideggers „Sein und Zeit“ – als hielte der Autor die Kapitel über Pomade, Dampfer und Telefone nur für das bunte Vorprogramm zum geisteswissenschaftlichen Gipfeltreffen mit dem Meisterdenker aus der Schwarzwaldhütte.

Im ersten, aufregenderen Teil bringt Gumbrecht den Philosophen noch lockerer ins Spiel, um auf interessante Begegnungen zwischen Hoch- und Alltagskultur zu verweisen. Wie auf diese profunden Worte Heideggers: „An den Kraftwagen ist neuerdings ein roter, drehbarer Pfeil angebracht, dessen Stellung jeweils (...) zeigt, welchen Weg der Wagen nehmen wird. Die Pfeilstellung wird durch den Wagenführer geregelt.“ Zu einer solch tiefen Analyse konnte das Jahr 1926 also doch Ausgangspunkt sein. CHRISTOPH RIBBAT

Hans Ulrich Gumbrecht: „1926. Ein Jahr am Rand der Zeit“. 550 Seiten, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001, 78 DM

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