: Kampf um die rote Zone
Der neue Antikapitalismus: SIE sollen nicht mehr ungestört über UNSER Schicksal bestimmen können. Und selbstverständlich eröffnet die Randale der bösen Gewaltbereiten erst jenes Feld der Sichtbarkeit, auf dem die seriösen Anliegen der gemäßigten Kapitalismuskritiker wahrgenommen werden
von ROBERT MISIK
Als Gerhard Schröder aus Anlass seines jüngsten Wien-Besuches in der Wohnung von André Heller die örtliche Zivilgesellschaft traf, da plätscherte das Gespräch vor sich hin, bis Ferdinand, der elfjährige Sohn des Gastgebers, eine Frage an den prominenten Besucher richtete. Wen Schröder denn einladen würde, begehrte der Junge zu wissen, wenn er die fünf mächtigsten Menschen der Welt zum Abendessen versammeln wollte. George Bush, Jiang Zemin, Bill Gates, antwortete Schröder prompt, um dann ins Stocken zu geraten . . . vielleicht den Chef des globalen Kommunikationsunternehmens . . . vielleicht auch einen internationalen Megastar . . . Europäischer Politiker, sinnierte Schröder, wäre wohl keiner darunter.
Wie es unter den Staatenlenkern längst Usus geworden ist, mit einer Mischung von Seufzen, Stöhnen und demonstrativer Bescheidenheit die Frage „Was ist schon Macht?“ abzuhandeln, so weiß die moderne Sozialtheorie, dass der Begriff „Macht“ eher eine Struktur beschreibt als Befugnisse, über die ein Mächtiger verfügt, und dass diese Macht in dezentrierten Gesellschaften schwer lokalisierbar ist. Zustimmendes Nicken erntet, wer das Wort von der „Ortlosigkeit der Macht“ in die Runde wirft.
Nur manchmal und ausnahmsweise werden die Verhältnisse klargestellt. Dann sieht alle Welt, wo sich Macht symbolisch konzentriert. Dann löst sich Macht nicht in die Maschen eines vernetzten Systems auf, sondern verschanzt sich, dann wird aus der Ortlosigkeit der Macht die „rote Zone“, die – wie in Genua – von der versammelten Staatsmacht mit aller Macht verteidigt wird. Da muss „mit aller Härte entgegengetreten“ werden, wie Gerhard Schröder formulierte. Es ist die Rache der modernen TV-Technologie am Politiker, dass die Worte, die vor dem Tod des Carlo G. aufgezeichnet wurden, immer und immer wieder über die Sender gingen, als sie von der Realität schon eingeholt waren. Der Satz mit der „Härte“ klang da ein bisschen herzlos.
Doch mit Schröder waren sich auch die meisten Kommentatoren einig: Die „bösen“ Gewaltbereiten, die „Internationale der Zerstörung“, müsse bekämpft, mit den „guten“, ehrlich besorgten Kritikern der Dialog gepflegt werden. Immer ruchloser gerieten in den Berichten die Krawallmacher, als wäre nicht ein Demonstrant von der Polizei, sondern umgekehrt ein Polizist von Demonstranten erschossen worden. Dem 23-jährigen Genueser wurde fast noch zum Vorwurf gemacht, dass ihn ein Carabinieri aus einem Jeep ins Gesicht geschossen hat. Dies ist nur eine der tragischen Paradoxien in einer an Fragwürdigkeiten nicht armen Geschichte.
Ein scharfsinniger Kommentator hat darauf hingewiesen, dass von den acht Männern, die sich in Genua trafen, sich einer gerade die Präsidentschaft erschlichen hatte, ein anderer in einen Genozidkrieg verstrickt ist, ein dritter sich wegen flagranter Korruption verteidigen muss und der vierte, der Gastgeber, wahrscheinlich mit der Mafia unter einer Decke steckt. „Demokratie fördern“ hieß eines der Ziele ihres Gipfels.
Diese acht Männer also waren zu einer Grenzziehung gezwungen worden, mussten plötzlich auf ungewollte Weise wieder repräsentieren. Die „rote Zone“ zeichnete sich durch nichts als die bloße Anweisenheit der Repräsentanten der Weltmacht aus. Deren Verteidigung gegen die Anrennenden verbuchten die knapp 20.000 Sicherheitskräfte schon als Erfolg, mochte die „gelbe Zone“ auch in Scherben liegen. Belagert von einer Art „Bewegung“, die seit Seattle anschwillt; in Genua waren es am Ende wohl 100.000 Menschen, allgemein bekannt unter dem irreführenden Namen „Globalisierungsgegner“.
Sie verhalten sich buchstäblich als „Vis-à-vis“ der Macht: Sie rennen gegen die „rote Zone“ an, als wäre die Durchbrechung der Sperren irgendeine Art von Sieg. „Die rote Zone muss fallen“, gaben die Tute Bianche, die zupackenden italienischen Radikalen in ihren weißen Overalls, als Parole aus. Ob in Seattle, Prag, Davos, Göteborg oder Genua: SIE sollen nicht mehr ungestört über UNSER Schicksal bestimmen können. Dies ist der eigentliche Existenzzweck der Gipfel- und Konferenzdemos.
Und so wie auch die Kritik am Konsumismus, konsumiert zu werden, wie der Pamphletismus gegen die Geschäftemacherei seinen Autoren beträchtlichen Wohlstand zu verschaffen vermag, genauso kann sich der Ansturm gegen die kalten Gesetzmäßigkeiten des globalen Kapitalismus dem Diktat des modernen Medienbusiness nicht entziehen. Natürlich eröffnet die Randale der bösen Gewaltbereiten erst jenes Feld der Sichtbarkeit, auf dem die seriösen Anliegen der gemäßigten Kapitalismuskritiker wahrgenommen werden; der Protest erreicht erst mit der Randale die Schwelle des Bildwerts. Da dies jeder Beteiligte weiß, sollte das stille Einverständnis zwischen den bedächtigeren Kritikern des globalen Kapitalismus, wie jene um die mittlerweile global vernetzte Gruppe Attac, und den handgreiflicheren Teilen der losen Weltbewegung nicht scheinheilig geleugnet werden. Doch hängt die Straßengewalt nicht mehr Ideen von der „Propaganda der Tat“ an, auch nicht autonomen Fantasien der Schaffung befreiter Zonen durch Straßenmilitanz, heutzutage wird die brennende Barrikade an ihrem PR-Wert gemessen, und darum sollte Gewalt, ginge es nach großen Teilen der Bewegung, bitte schön nur in Dosen verabreicht werden. Kräftig genug, um zur Schlagzeile zu taugen, mehr nicht. Das ist es, was von den Gewaltdebatten der Siebzigerjahre übrig blieb.
Doch die Dynamik moderner Mediengesellschaften lässt für derartige Dosierungen nur wenig Spielraum. Nachdem schon beim EU-Gipfel in Göteborg schwedische Polizisten kopflos autonome Streetfighter unter Feuer nahmen, erwartete alle Welt von Genua einen neuen Kick, so wie ein Süchtiger die Dosis steigern muss. Klammheimlich fieberten alle, Beobachter wie Beteiligte, den ersten Toten entgegen. Carlo G. ist kein Märtyrer der antikapitalistischen Bewegung, er ist ihr erstes Opfer; insofern als die Dinge mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf das Drama von Genua hinausliefen. Abermals steht eine Protestbewegung vor dem Dilemma, in eine quasi-militärische Sackgasse zu geraten. Würde sie daran kaputtgehen, wäre das schade.
Die Kultur der Gipfeldemonstrationen ist das wohl einzig wirklich globalisierte Unternehmen – getragen von einer gemeinsamen internationalen Öffentlichkeit von unten, zusammengehalten von einem Netz von Nichtregierungsorganisationen, das alle Kontinente umfasst; doch global ist die Szenerie nicht nur im geografischen, sondern auch im politischen Sinn. Ausgerechnet aus dem unübersichtlichen Patchwork formt sich eine Art Bewegung, die den – nach 1968 verabschiedeten – universalistischen Standpunkt wieder einnimmt. Die Partikularismen der „sozialen Bewegungen“ werden integriert, Umweltzerstörung, Unterentwicklung der Dritten Welt, Kinderarbeit und soziale Ungleichheit zu Indizien im Prozess gegen den entgrenzten Kapitalismus. Einen utopischen Fluchtpunkt gibt es nicht. Sieht man vom utopielosen Antikapitalismus der Anarchogruppen ab, scheint es beinahe, als hätten die Gegner des Kapitalismus gelernt, dass dieser jedes Gegenmodell zu integrieren vermag – und sich umso fester innerhalb dessen Logik einnistet. Die Revolte kommt aus dem Inneren, nimmt keine Außenposition mehr ein. So groß die kulturellen Differenzen zwischen indianischen Guerilleros, französischen Bauernführern, westdeutschen Gewerkschaften und professoralen Weltfinanzmarkt-Kritikern auch sein mögen, so laufen doch alle Forderungen auf eine Re-Regulierung der kapitalistischen Weltmaschine, diesmal eben auf globalisierter Grundlage, hinaus – paradoxer Nachhall des Nixon’schen Diktums „We are all Keynesians now“.
Es wird da ein Unbehagen sichtbar, das der kapitalistische Mahlstrom und der oppositionslose liberal-demokratische Mainstream gleichermaßen erzeugen, das aber unrepräsentiert bleibt – Aufstand gegen das pensée unique, das „Einheitsdenken“, wie die Franzosen das nennen; ein bisschen Ressentiment gegen „Verwestlichung“ und „Amerikanisierung“ ist im Spiel. Mancherorts ist McDonald’s-Zertrümmern en vogue.
Idol oder Führer hat die Bewegung keine. Gäbe es eine Integrationsfigur, sie wäre eine mächtige Gestalt. Gerhard Schröder müsste sie glatt zum Abendessen einladen.
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