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Der Nordkaukasus

Grosny, „die Schreckliche“, und Wladikawkas, „Beherrscher des Kaukausus“ – die Namen der beiden größten Garnisonsstädte aus der zaristischen Zeit kennzeichnen bis heute Russlands Programm im nördlichen Kaukasus. So wie der Kaukasus für die zaristischen Truppen Abenteuerspielplatz und Friedhof zugleich war, ist er für das postsowjetische Russland erneut zum Tummelplatz der Reste der Roten Armee geworden. Während sich zu Beginn der Neunzigerjahre Sowjetrepublik um Sowjetrepublik – anfangs noch mit Unterstützung des damaligen Chefs der Sowjetrepublik Russland, Boris Jelzin – selbstständig machten, wollte derselbe Jelzin wenig später ein unabhängiges Tschetschenien nicht mehr zulassen.

Mehr als dreißig Jahre hatte im 19. Jahrhundert Sheik Schamil, einer der ersten modernen Guerillaführer in der Geschichte, es geschafft, der zahlenmäßig weit überlegenen Armee des Zaren immer wieder empfindliche Niederlagen beizubringen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts bekam Moskau die Region in den Griff und kontrollierte von Grosny und Wladikawkas in Nordossetien aus die Pässe und die Große Heerstraße über den Kaukasus nach Georgien und Aserbaidschan.

Die tschetschenischen Kämpfer um den früheren sowjetischen Luftwaffenobersten Dudajew sahen sich exakt in der Tradition des großen Schamil. Nicht zufällig heißt einer ihrer bekanntesten Kommandanten Schamil Bassajew, und wie schon im 19. Jahrhundert erhielt der Kampf gegen die Russen schnell wieder eine religiöse Tönung. Mit grünen Stirnbändern als Kämpfer Allahs ausgewiesen, stürzten die Tschetschenen sich überraschend erfolgreich auf die russischen Invasoren und brachten Jelzins Truppen eine herbe Schlappe bei.

Unter Vermittlung der OSZE wurde zwischen dem damals bekanntesten russischen General Lebed und dem tschetschenischen Kommandanten Maschadow 1996 ein Abkommen ausgehandelt, in dem den Tschetschenen weit reichende Autonomie zugestanden und eine Entscheidung über den endgültigen Status Tschetscheniens auf 2001 vertagt wurde. Doch keine Seite hielt sich an die Vereinbarungen. Moskaus zugesagte finanziellen Hilfen zum Wiederaufbau kamen nie an, und im halb zerstörten Grosny verlor der gewählte Regierungschef Maschadow immer mehr an Autorität. Die Clans setzen ihre eigenen Interessen durch, Entführungen wurden zu einer Haupteinnahmequelle, und Clanchefs wie Bassajew, der duch die Besetzung eines Krankenhauses in Südrussland weltweit bekannt wurde, begannen, ihren „Heiligen Krieg“ ins benachbarte Dagestan auszuweiten.

In Moskau wurde derweil eine rassistische Stimmung gegen die „Schwarzen“, wie alle Kaukasier pauschal genannt werden, immer mehr angeheizt, sodass Jelzin in großer innenpolitischer Not die Wut der Russen leicht auf die Tschetschenen lenken konnte. Nach mehreren Bombenanschlägen auf Moskauer Wohnhäuser glaubte der größte Teil der russischen Bevölkerung unbesehen an die tschetschenische Spur und folgte Jelzin willig in den zweiten Krieg im Nordkaukasus.

Koordinator für den Krieg wurde ein damals noch weitgehend unbekannter Wladimir Putin, der auf der Woge erster militärischer Erfolge im vorigen Jahr mit großer Mehrheit zum neuen Präsidenten gewählt wurde. Heute ist Putin da, wo die Zaren schon waren: Seine Truppen siegen sich zu Tode, während der Nordkaukasus von einer Befriedung weit entfernt ist.

JÜRGEN GOTTSCHLICH

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