: Demokratie auf Kosten der Juden?
■ Demokratiebewegung, Ökonomie und Antijudaismus: Jutta Bradens umfangreiche Studie „Hamburger Judenpolitik im Zeitalter lutherischer Orthodoxie 1590–1710“
Die Debatten um die Greencard noch im Ohr und vor Augen die Entwürfe zu einem deutschen Einwanderungsgesetz, ließe sich leicht Folgendes behaupten: Zuwanderung wird immer nur insoweit ermöglicht, wie sie ökonomisch von Nutzen ist. Auch die Bedingungen, unter denen seit den 50er-Jahren Gastarbeiter angeworben wurden, lassen sich leicht nach diesem Muster interpretieren.
Eine in diesem Monat herausgegebene Studie von Jutta Braden scheint das zunächst auch für ein weit zurückliegendes Jahrhundert zu beweisen. Hinter dem Titel, Hamburger Judenpolitik im Zeitalter lutherischer Orthodoxie 1590–1710, verbirgt sich weit mehr als er zunächst vermuten lässt: Denn neben dem Einfluss, den die – heute unbestritten antisemitische – Lehre Luthers auf den Umgang der Stadt mit zugewanderten Juden gehabt hat, setzt sich Braden ausführlich auch mit den ökonomischen Prämissen auseinander, die insbesondere die Gesetzgebung des Rates bestimmten und eine Zuwanderung von Juden beförderten.
Der Rat als städtischer Herrschaftsträger im 17. Jahrhundert rekrutierte sich aus der kaufmännischen Oberschicht. Diese begrüßte und ermöglichte vom Jahr 1590 an – dem Beginn jüdischer Ansiedlung in Hamburg – den Zuzug von portugiesischen Kaufleuten, größtenteils zwangsgetaufte Nachkommen sefardischer Juden von der iberischen Halbinsel, die dann häufig zum jüdischen Glauben zurücckehrten. Der wirtschaftlich aufstrebenden Elbmetropole sollten sie einen Ausbau der westeuropäischen Wirtschaftsbeziehungen und des Überseehandels garantieren.
Doch neben dem Rat besaß auch die – von der gewerblich und handwerklich geprägten Mittelschicht Hamburgs dominierte – Bürgerschaft politische Mitspracherechte. Sie war neben der ihren Einfluss vor allem von der Kanzel herab geltend machenden Geistlichkeit entschiedene Gegnerin der jüdischen Zuwanderung. Dafür ist aber, wie Braden deutlich macht, nicht nur ihre Konkurrenzangst verantwortlich zu machen, sondern ebenso eine davon unabhängige antijüdische Grundhaltung.
In dem Maße, wie neben anderen der einflussreiche Pfarrer Johannes Müller von der Mitte des Jahrhunderts an seinen Antijudaismus predigte, war der Rat gezwungen, seine Gesetze dieser verbreiteten Stimmung, die sich immer wieder auch in Gewalttätigkeiten gegen Juden äußerte, anzupassen. Zugleich wurde seine Macht zunehmend durch die Bürgerschaft angefochten. Diese Entwicklung gipfelte darin, dass am Ende des Jahrhunderts – in einer Phase wirtschaftlicher Stagnation – die Bürgerschaft gerade das Feld der Judenpolitik benutzte, um den Rat zu entmachten. Zahlreiche Sefarden verließen daraufhin die Stadt.
Daran lässt sich nicht nur ablesen, wie die Vertreibungspolitik letztlich der Stadt wirtschaftlichen Schaden zufügte, sondern, so stellt Braden heraus, dass der Demokratiebewegung in Hamburg schon in ihren ersten Stunden ein fremden- und judenfeindlicher Zug eingeschrieben war. Und allein schon diese Erkenntnis macht eine Lektüre des Buches wirklich lohnenswert. Christiane Müller-Lobeck
Jutta Braden: Hamburger Judenpolitik im Zeitalter lutherischer Orthodoxie 1590–1710, Hans Christians Verlag, Hamburg 2001, 606 S., 88 Mark
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