: Die Katastrophe bleibt aus
Frei von Dopingskandalen und Polizeirazzien, wird die von Lance Armstrong gewonnene 88. Tour de France von den Veranstaltern als schönste der letzten Jahre gefeiert. Das Misstrauen besteht weiter
aus Paris SEBASTIAN MOLL
Hunderttausende drängen sich hinter den Absperrungen an den Champs-Élysées, warten auf ihre Gladiatoren. Ein buntes Gemisch – grölende Fangruppen in den Teamfarben ihres Rennstalls zwischen südamerikanischen Sambagruppen, afrikanischen Trommlern und polnischen Akkordeonspielern, aber auch brave Anzugträger in Grau und Blau. Es ist wie immer am Finaltag – Frankreich feiert unbeschwert sein nationales Monument, seine Tour de France, bejubelt den Sieger der letzten Etappe, den Tschechen Jan Svorada, den zweitplatzierten Erik Zabel, der zum sechsten Mal das Grüne Trikot des Punktbesten gewinnt, und Lance Armstrong, der die Rundfahrt zum dritten Mal in Folge als Sieger beendet.
Die befürchtete Katastrophe ist ausgeblieben. Nach der Razzia beim Giro d’Italia hatten die Tour-Organisatoren mit dem Schlimmsten gerechnet. Händeringend hatte Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc die italienischen Behörden gebeten, ihm die Namen verdächtiger Fahrer rechtzeitig zu nennen, damit er sie aus dem Peloton verbannen könne, bevor sich die französische Polizei öffentlichkeitswirksam während der Tour um sie kümmern würde. Doch statt Polizeirazzien und Dopingschlagzeilen über sich ergehen lassen zu müssen, konnte sich Leblanc über die schönste Tour seit drei Jahren freuen. „Es war besser als 2000, besser als 1999 und sowieso besser als 1998. Ich glaube, dass wir die Krise zum größten Teil überstanden haben.“
Doch das Misstrauen bleibt. Bis der Radsport seine Glaubwürdigkeit wiedererlangt, wird es noch lange dauern. Die erste große Pressekonferenz von Lance Armstrong geriet zum Tribunal. An seiner Verbindung zum verrufenen italienischen Arzt Michele Ferrari bissen sich diesmal die Skeptiker fest. „Der Radsport ist unter dem Mikroskop. Ich werde verdächtigt, weil ich ein Radsportler bin. Der Radsport hat in der Vergangenheit Fehler gemacht, und es ist euer gutes Recht, zu fragen“, zeigte er sogar Verständnis. Die Anfeindungen der Journalisten waren jedoch nicht die einzigen, die Lance Armstrong über sich ergehen lassen musste. Er ist der bislang einzige Träger des Gelben Trikots, der an der Strecke von den Fans ausgepfiffen wurde. Seine Überheblichkeit wird ihm vorgeworfen: „Er hat keinen Respekt vor seinen Gegnern“, kritisierte ihn der Gewinner des Bergtrikots, Laurent Jalabert, „ihm fehlt die Bescheidenheit.“ Frankreich liebe eben den Zweiten mehr als den Sieger, versuchte sich Armstrong selbst das Phänomen zu erklären.
Frankreich liebte in diesem Jahr vor allem Laurent Jalabert. Seit seinem vierten Platz 1995 hatte der langjährige Weltranglistenerste sich an der Tour die Zähne ausgebissen. Das Projekt Gesamtsieg hat er ad acta gelegt. Stattdessen zeigte er den Franzosen ein großes Spektakel. Alle Freiheiten nutzend, die ihm der Sportdirektor seiner neuen Mannschaft CSC, Bjarne Riis, einräumte, genoss er es, seinem Temperament freien Lauf zu lassen. Jahrelang hatte er dieses zügeln müssen und sich der Raison seiner spanischen Mannschaft Once untergeordnet.
Temperamentvoll gewann er zwei Etappen in der ersten Woche, eine davon am französischen Nationalfeiertag. Seine größte und begeisterndste Verrücktheit war jedoch seine 180 Kilometer lange Attacke in den Pyrenäen, die dem einstigen Sprinter und Eintagesfahrer das Bergtrikot einbrachte. Bizarr fand er es, das ausgerechnet er dieses Trikot nach Paris tragen durfte, doch seiner Freude und der seiner Fans tat dies keinen Abbruch.
Der Pyrenäentag war jedoch nicht nur der Tag des Laurent Jalabert. Es war auch der Tag des Jan Ullrich. Unermüdlich stemmte er sich gegen die unausweichliche Niederlage, versuchte an jeder Steigung und unter Aufbietung aller Kräfte, Lance Armstrong abzuschütteln. Sein Sturz ins Gebüsch verstärkte den dramatischen Effekt dieser heroischen Bemühungen. „Die Ritterlichkeit ist zurückgekehrt“, freute sich am nächsten Tag L’Equipe über diesen Tag in den Pyrenäen und erklärte die Epoche der kühlen, leidenschaftslosen Rechner, die mit Miguel Induráin begonnen hatte, für beendet.
Ein Rechner war Jens Voigt noch nie. Seit seinem ersten Tourstart 1998 sehnt er sich nach nichts mehr als nach einem Etappensieg. In jeder Fluchtgruppe, und sei sie noch so aussichtslos, war er schon im vergangenen Jahr zu finden, jetzt war ihm endlich das Glück hold. Kein Etappensieger in diesem Jahr freute sich so nachhaltig wie Voigt in der Heimatstadt von Jacques Chirac, Sarran.
Ritterlich schlug sich, last, not least, auch der wackere François Simon, der sich das Gelbe Trikot während der erfolgreichen Flucht auf der Regenetappe nach Pontarlier holte und es erst in den Pyrenäen an Armstrong abgab. Simon wurde nicht nur als „Prototyp des einfachen Kerls, des ehrlichen Arbeiters“ (L’Equipe) gefeiert, sondern vor allem als Vertreter der kleinen französischen Mannschaften, die in diesem Jahr gegen die etablierten Equipes antreten durften. Hart kritisiert wurde Jean-Marie Leblanc, dass er diese Mannschaften eingeladen hatte, Chauvinismus wurde ihm vorgeworfen. Leblanc wollte damit jedoch vor allem den Neubeginn der Tour nach 1998 unterstreichen: Alle französischen Mannschaften unterliegen der französischen Antidopingüberwachung, der strengsten der Welt.
Der Erfolg von Jalabert, Simon und den anderen Franzosen gab Leblanc augenscheinlich Recht. Aber es bleiben die Zweifel. „Wir sind in einer Phase der Rekonstruktion“, behauptet Leblanc. Allerdings wollte er auf dieses Urteil nicht festgenagelt werden: „Es gab viel Leidenschaft in diesem Jahr und eine große öffentliche Begeisterung. Ich freue mich darüber, aber mit Zurückhaltung, sonst nennt man mich wieder einen Triumphalisten und Optimisten.“ Freude über diese Tour ist sicherlich angebracht. Zurückhaltung ebenfalls.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen