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bernhard pötter über Kinder „Und wovon träumt ihr nachts?“

Das Kinderzimmer ist offiziell bösenfreie Zone. Doch das Grauen kriecht aus allen Ecken

„Papa, warum liegt der Mann da?“

Was? Welcher Mann?

„Hier! Und warum stehen die anderen da und gucken so?“

Jonas steht im Wohnzimmer und hat die taz vom Wochenende in der Hand. Auf dem Titel das Foto von dem erschossenen Demonstranten, der in seinem Blut liegt. Fasziniert starrt Jonas auf das Bild.

„Warum liegt der da?“

Ääähhh, der Mann ist krank, Jonas. Dem geht’s nicht gut.

„Krank? Warum?“

Weil sich die Demonstranten mit der Polizei gehauen haben.

„Aber warum?“

Manchmal hauen die Menschen sich. Das ist wie bei euch im Kindergarten.

„Kommt jetzt die Feuerwehr?“ Mein dreijähriger Sohn kann sich von der Titelseite gar nicht losreißen. Er hält sie hoch und läuft durch die Wohnung. „Mama, guck mal, der Mann ist krank und liegt auf der Straße.“

Anna ist Journalistin. Ich bin Journalist. Das heißt: Wir haben Hornhaut auf der Seele. Wir fanden an der Titelseite nichts Ungewöhnliches, das Foto war ein „Hingucker“. Aber Jonas ist kein Journalist. Er will den Verletzten trösten. Dabei haben wir ihm nicht mal erzählt, dass der Demonstrant tot ist. Tot ist für ihn meine Oma, die er nie kennen gelernt hat. „Oma Hedwig ist im Himmel“, sagt er, wenn von ihr die Rede ist, und zeigt aus dem Fenster in die Wolken. Aber wenn er im Garten eine tote Maus findet, beschäftigt ihn das tagelang.

Kinder soll man nicht in Watte packen. Aber wie bringt man ihnen Sachen bei, die man selbst nicht richtig versteht? Früher haben die Eltern ihremNachwuchs Märchen erzählt, die nur aus Not, Tod und Verderben bestanden und die Kinder mit der moralischen Keule weich klopften. „Kinder brauchen Märchen“, hieß es dann in der nächsten Generation, „weil sie so ihre Angstthemen verarbeiten können.“ Das klingt gut. Aber je älter mein Sohn wird und je öfter er im dunklen Zimmer abends Monster hinter der Gardine vermutet, desto schwerer fällt es mir, die Geschichte von Rotkäppchen originalgetreu zu erzählen. Außerdem ist es dämlich, der nächsten Generation Angst vor Wölfen, Füchsen und Bären einzuimpfen, die wir fast ausgerottet haben. In den Märchen, die sich die Tiere erzählen, sind sicherlich wir die Buhmänner.

Nein, wir erzählen keine Märchen. Bei uns wird jeden Abend eine Geschichte frisch erfunden. Da gibt es keine Bösen und jeder Streit wird friedlich geregelt. Aber gerade das ist ein Problem. Nicht, dass die Geschichten langweilig werden – man kann auch mit fliegenden Schweinen und sprechenden Zeppelinen Dreijährige fesseln. Aber es fehlt was. Die Faszination des Bösen? In unserem Kasperletheater gibt es natürlich den Teufel, wie ihn Jonas vom Christopher Street Day kennt: mit rotem Gesicht und Hörnern. Aber Satan ist nur ein Statist. Die Dresche bezieht das Krokodil. Und das auch noch für artgerechtes Verhalten, wenn es die Prinzessin fressen will.

Wie sähe ein Kinderzimmer aus, das keine bösenfreie Zone ist? Die Füchslein aus dem Kinderbuch würden mit den kleinen Häslein nicht Ball spielen, sondern Katz und Maus. Und die Autoflotte unter dem Schrank würde die Luft verpesten.

Vollständig zerbröselt die Illusion, alles sei gut, aber schon eine Tür weiter. „Die nachfolgende Sendung ist ungeeignet für Kinder unter fünfzehn Jahren“, steht jeden Tag um 20 Uhr nicht auf dem Bildschirm. Was für die Journalisteneltern die Luft zum Atmen ist, wird für unser Kind unversehens zum Horrortrip. („Dann lasst ihn doch nicht fernsehen“, sagen gutmeinende kinderlose Freunde. „Danke für den guten Rat“, sagen wir dann. „Und wovon träumt ihr nachts?“) Besonders schlimm war es, als die Maul- und Klauenseuche in England wütete. Wir konnten Jonas gar nicht so schnell ablenken, wie die Aufnahmen von aufgeblähten Kuhkadavern und brennenden Schweinen kurz vor dem Schlafengehen über den Schirm liefen.

Dann kamen die Bilder von den toten Schafen, die im Bulldozer weggekarrt und in den Container geworfen wurden. Jonas starrte auf den Bildschirm. Wir starrten mit. Wochenlang hatten wir professionell über die Probleme rund um Rinderwahn und MKS gesendet und geschrieben. Aber nie war uns das Thema so an die Nieren gegangen wie an diesem Abend, als wir mit Jonas vor dem Fernseher saßen und die Schafe im Container verschwinden sahen. „Warum machen die Männer das mit den Schafen?“, fragte Jonas leise.

Wir hatten eine Menge Erklärungen. Aber keine Antwort.

Fragen zu Kindern? kolumne@taz.de

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