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„Kreuzberg ist nicht typisch deutsch“

Workcamp der anderen Art: Junge Leute aus verschiedenen Ländern blicken auf Kreuzberg. Mit der Kamera. Sie drehen einen Film über den Multikulti-Stadtteil, der die Bewohner zum Nachdenken anregen soll. Den Filmemachern gefällt der Kiez, obwohl sie über manch Hundehaufen steigen müssen

von SILKE KATENKAMP

„Auf diesen Straßen zu gehen ist etwas Besonderes.“ Silke Hinder steht auf einem Gitterrost, rund vierzig Meter über den Dächern von Kreuzberg, und schaut hinunter auf „ihren“ Bezirk. Die kleine Frau ist Pastorin, ihr Himmelreich die Kirche Zum Heiligen Kreuz. Hier oben, auf dem schmalen Eisenstieg, direkt unter dem Glockenturm, ist sie schon lange nicht mehr gewesen. „Das letzte Mal bei der Sonnenfinsternis.“ Das ist aber schon lange her, und damals bedeckten dunkle Wolken den Himmel. Jetzt scheint die Sonne, spielt der Wind zwischen den Ritzen der Eisenstäbe und trägt den Straßenlärm herauf. Hinter der Frau mit den silbernen Steckern in den Ohren ragt die rote Backsteinkuppel der Kirche in den Himmel. Vor ihr steht eine Kamera, in die sie weiter spricht: „Hier gibt es nichts, was es nicht gibt, und eine Menge Menschen zum Glücklichsein.“ Hinder lächelt zufrieden. Hinter der Kamera steht, tief gebeugt, Flore.

Die junge Französin hat die Pastorin genau im Visier. Und lässt sie erzählen. Von sich und ihrer Arbeit, ihren Visionen und Wünschen für das Viertel. Flore ist 22 Jahre alt und kommt aus Straßburg. Die Kunststudentin ist nach Kreuzberg gekommen, um Stimmen einzufangen. Auf fünf Millimeter breitem Magnetband. Darauf haben sich schon viele Worte und Bilder angesammelt. Von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, mit heller oder mit dunkler Haut. Verschiedene Gesichter, verschiedene Ansichten. Aus denen ein Film entsteht. Über das Leben und die Menschen in Kreuzberg.

Begleitet wird Flore von Katsiaryna aus Weißrussland und Inge aus der Schweiz. Inge hält das Mikrofon, Katsiaryna prüft über zwei Kopfhörer die Tonqualität.

Die drei Frauen gehöhren zu einer Gruppe von 18 Menschen aus zehn verschiedenen Ländern: aus Polen, Schweden, Belgien, der USA und der Türkei. Aus Deutschland, Weißrussland, Irland, Frankreich und der Schweiz. Seit einer Woche ziehen sie in kleinen Filmteams durch Kreuzberg. Zusammengebracht hat die jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren ein internationales Film-Workcamp des Service Civil International Berlin (SCI) und des Stadtteilausschusses Kreuzberg. „Wir verstehen uns als Vermittlerinstanz zwischen Bürgern und Bezirksamt“, erklärt Milena Riede, Geschäftsführerin des Stadtausschusses. „Mit dem Film wollen wir die Anwohner kreativ in unsere Arbeit einbeziehen, Probleme aufzeigen und Anregungen für Verbesserungen geben.“ Die Ergebnisse sollen in ihre Projekte einfließen, auf Straßenfesten und Veranstaltungen gezeigt werden.

Das Filmworkcamp ist das erste, das der Ausschuss mit dem SCI organisiert. Dieser war 1920 unter den Eindrücken der Schrecken des Erstes Weltkrieges gegründet worden. Die Organisation vermittelt Freiwillige für internationale Workcamps im Bereich Friedensarbeit, Arbeit mit Minderheiten, im Natur- und Umweltschutz bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen.

Bevor die Campteilnehmer mit ihrer Arbeit loslegen konnten, lernten sie in einem dreitägign Workshop des Offenen Kanals den Umgang mit Kamera und Schnitt. Danach wurden sie per Fahrrad durch das Viertel geschickt, um einen Eindruck von dem Stadtteil zu erhalten. Begleitet wurden sie von „alteingesessenen Anwohnern“, die „eine Menge zu erzählen hatten“, schmunzelt Katsiaryna. Nachher wusste sie mehr über den Stadtteil als manch ein Berliner, kann von seiner Geschichte erzählen: von der Hausbesetzerbewegung der Achtzigerjahre, den alternativen Protesten. Vom Mauerfall, durch den der Szenebezirk aus der Randlage in die Berliner Mitte rückte. Und von der Arbeitslosigkeit. „Zu Hause habe ich eine Postkarte aus Kreuzberg gesehen. Darauf war ein großes buntes Graffiti, vor dem Studenten saßen. Das wollte ich selber sehen“, erzählt die 23-Jährige, die in Minsk englische und deutsche Linguistik studiert. Außerdem möchte sie ihre Deutschkenntnisse verbessern. Dazu hat sie hier auch jede Gelegenheit, denn Pflichtsprache im Camp ist Deutsch. „Das muss es auch, schon wegen der Interviews.“

Von dem Leben, das sie in Kreuzberg kennen gelernt hat, ist sie begeistert. „Es ist eine andere Art zu leben. Alternativ und bunt.“ Das gefällt ihr. „Die Leute sind sehr offen und tolerant.“ Ein Anwohner hat ihr erzählt, das käme von der Mischung unterschiedlicher Kulturen. „Die meisten Menschen, die hier leben, sind hergezogen, wohnten vorher woanders“, berichtet sie. „Deswegen beansprucht niemand den Stadtteil für sich, sondern toleriert andere Lebensarten.“

Inge aus der Schweiz nickt. „Die Menschen hier engagieren sich für ihren Bezirk. Wollen was verändern.“ Viele ihrer Interviewpartner arbeiten in sozialen Institutionen. So hat sie schon jemanden vom Kreuzberger Nachbarschaftshaus kennen gelernt. Dort treffen sich Alte und Junge. Um gemeinsam zu spielen, zu klönen, Feste zu feiern. „Das kenne ich aus der Schweiz nicht“, meint die 19-Jährige. „Dort leben alte Menschen zunehmend isoliert, vereinsamen.“

Bei ihren Arbeit begegnet den Jungfilmern aber auch sehr Banales aus dem Kreuzberger Leben. „Hundescheiße“, stellt Inge fest, „ist für viele ein Problem.“ Überall würden die Viecher hinscheißen. Das ärgere die Leute. Geht es um Hunde, werden Berliner emotional. „Auf einer Wiese wurden wir von Obdachlosen beschimpft, die dachten, wir würden ihre Hunde filmen, über die Kacke meckern.“

Auch im Bildungsbereich stößt die Gruppe auf Probleme. So berichteten junge Mütter von der „katastrophalen“ Situation in Kreuzbergs Schulen. „Sie haben Angst vor schlechtem Unterricht.“ Denn nur noch ein Bruchteil der Kinder in den Klassen spreche Deutsch. Viele Familien würden daher wegziehen.

Aber noch leben in Kreuzberg 150.000 Menschen unterschiedlicher Herkunft, ein Drittel davon ohne deutschen Pass. „Kreuzberg ist etwas besonderes“, sagt Flore. Die zierliche Französin mit den kurzen schwarzen Haaren will Dokumentarfilme machen. Darum nimmt sie am Workcamp teil. Später möchte sie einmal in dem Stadtteil leben, den sie bisher nur aus den Erzählungen ihrer Freunde kannte und über den sie jetzt einen Film dreht. Flore mag Kreuzberg. „Das ist nicht typisch deutsch.“

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