: „Ma gucken, wat heut hier geht“
Die erste TV-generierte Girlgroup „No Angels“ hat alle Beteiligten glücklich gemacht: Sie sorgt als Goldesel für volle Kassen. Grund genug für RTL 2, den Erfolg aus der Retorte zu wiederholen. Das bundesweite Casting für die „No Angels 2“ läuft bereits
aus Köln MARTIN WEBER
Fix und fertig sieht Lea aus, und dabei ist es erst halb zwölf – und das, was der Tag für sie bringen soll, steht erst noch an. Lea sitzt vor dem Kölner Maritim-Hotel, der Planet sticht heftig und selbst im Schatten flirrt die Luft. Lea ist einer von 2.000 jungen Menschen, die an diesem Freitagmorgen ins Kölner Maritim-Hotel gekommen sind, weil sie an sich glauben. Weil sie Popstar werden wollen.
Und weil der Kulturkanal RTL 2 im vergangenen Jahr bewiesen hat, dass man aus dem Nichts eine Erfolgstruppe zusammenrühren kann: die No Angels. Beim größten Casting der deutschen Medien- und Musikgeschichte sind seinerzeit aus 4.300 Bewerberinnen fünf Mädchen ausgesucht worden – die zusammengeklempnerten Hupfdohlen haben mit perfekt einstudierten Tanzschrittchen und gewaltigen Stimmen sämtliche Rekorde gebrochen: Der antiseptische Popsong „Daylight In Your Eyes“ verkaufte sich bis dato über 900.000 Mal. Das Besondere daran: Was RTL 2 unter dem Logo „Popstars“ verwurstete, war „Big Brother“ mal andersrum. Erst gab’s die Musik, dann ging’s in den Container und ins Fernsehen – und dort wurden die No Angels unter fachkundiger Anleitung getrimmt und getriezt. So lange, bis alle fünf auch den Schliff hatten, den man heutzutage im Musikbiz braucht. Alles ist Pop? Pustekuchen! Alles ist Marketing, so läuft der Hase.
Bei der Neuauflage des bundesweiten Castings dürfen auch Jungs mitmachen, diesmal soll eine gemischtgeschlechtliche Band die Charts im Schweinsgalopp nehmen. Matthias Trenkle, PR-Mann von RTL 2, weiß vor lauter berufsbedingter Begeisterung gar nicht, wo er sich lassen soll. „Wir werden das heute gar nicht alles schaffen und morgen auch noch casten“, sprudelt es aus ihm heraus, „wie’s aussieht, ist der Anteil Jungs/Mädchen ungefähr fifty-fifty, mit so einem Andrang hätten wir nun wirklich nicht gerechnet.“
Das sieht man. In einem Seitenflügel des Maritim herrscht hektisches Gewusel, es gilt Anmeldungsformulare auszufüllen und sich dabei möglichst auch das Kleingedruckte durchzulesen. Wer eines der Formulare unterschreibt, entrechtet sich erst mal gründlich selbst und verhökert allerlei an RTL 2 und die Firma Tresor TV-Produktion. Nutzungs-, Leistungsschutz-, Persönlichkeits- und sonstige Rechte wie Merchandising-, Druckneben- und Online-/Internet-Rechte – die ganze Palette eben.
Was 2.000 Popstars in spe aber wohl herzlich egal sein wird. Ein Geräuschkonglomerat aus Handygebimmel, SMS-Gepiepse und juvenilem Geschnatter drückt derweil auf die Nerven, Angst- und Sommerschweiß vermischen sich mit dem Parfüm des potenziellen Erfolgs. Schön und eine straffe Organisation ist was anderes. Denkt bestimmt auch der Security-Mann, der justament ausflippt. „Entweder raus oder in den Wartesaal!“, brüllt er. Melanie, großzügig geschminkt und außerdem die Nummer 635, juckt das nicht die Bohne. Erst nachdem sie den Stand der eigenen Befindlichkeit durchtelefoniert hat („Wir sind sehr viele hier, es ist ganz schön aufregend“), geht sie raus, der prallen Sonne entgegen.
Der Wartesaal heißt „Maritim I“, und in ihm sind erst mal alle gleich – vor allem gleich aufgeregt. Denn im „Maritim I“ kann man als Gleicher unter Gleichen die erste Stufe auf der langen steilen Treppe zum Erfolg nehmen: freiwilliges Vor- und Warmsingen ist angesagt. In der Räumlichkeit mit gigantösem Kronleuchter herrscht erhöhtes Buffalo-Aufkommen, der Schuh macht immer noch keinen schlanken Fuß, und ab und an rennen Mädchen im Rudel gen Toilette. Und zwar immer dann, wenn dort ein Kamerateam gesichtet wurde. Müssen muss man ja nicht, Hauptsache Farbfernsehen.
Auf der Bühne turnt derweil ein RTL-Hampelmann herum, erklärt alle paar Minuten das Procedere und fragt dann mit dem Charme eines Schiffschaukelbremsers die immer gleichen Sachen ab: „Woher, wie alt, wat singste?“ Das Gros der zukünftigen Popstars singt furchtbare R & B-Schmusesoße. Toni Braxton, Whitney Houston, R. Kelly. Auch erstaunlich gut im Rennen: „Amazing Grace“. Und Tracy Chapman.
Claudia, Nummer 573, wird „Sorry“ zu Gehör bringen und sieht ein bisschen aus wie ein spätes Mädchen, ist aber de facto eine verheiratete Frau. Und außerdem Substitutin im Einzelhandel. „Ich komm aus Duisburch“, plappert sie drauf los, „und eigentlich hab ich ’nen prima Job. Bin sogar fast unkündbar, weil ich im Betriebsrat sitze. Aber wenn ich im Bad singe und die Nachbarn gehen am Fenster vorbei, fragen hinterher immer: Warst du dat oder war dat im Radio? Ma gucken, wat heut hier geht.“ Hinaus geht’s aus „Maritim I“ nur vorbei am Clearasil-Stand. Und dabei wird zweierlei klar, erstens: Selten war Sponsoring so stimmig, Pop und Pickel parkten schon immer in einer Garage. Zweitens: Thomas, Nummer 743, hat die „Popstars“-Segel schon gestrichen und in den Sack gehauen, sein Sticker klebt einsam an einer Säule.
Hinein in „Heumarkt II“, den Saal der Entscheidung. Hier findet das eigentliche Casting statt, in Fünfergruppen dürfen die Kandidaten vortreten und zeigen, was sie können. 15, 20 Sekunden lang, selten länger. Die Jury besteht aus Alex Christensen, Produzent, Noah Sow, Radiomoderatorin und Sängerin, und Detlef „Dee!“ Soost, Choreograf. Die Rollenverteilung ist schnell klar: Alex Cristensen ist der zurückhaltende Sympathikus, Noah Sow gibt die freundliche Grinsekatze und Detlef „Dee!“ Soost erweist sich als Unsympath, wie er im Buche steht.
Nun gut – der Mann kann sich’s erlauben, schließlich hat er schon den No Angels die entscheidenden Schrittchen eingebleut. Dieser Detlef „Dee!“ Soost hat nicht nur Strom im Bizeps, sondern auch in der Birne – und den lässt er frank und frei rausbrizzeln. „Schluss mit dem Rumgelaufe da hinten“, bellt er, „Respekt für die Leute, die hier vorne stehen. Das ist ’ne Chance, die ergriffen werden sollte“.
Vier Jungs südländischen Typs wollen sollen, nach anderthalb Minuten sagen alle drei Jury-Mitglieder artig „Danke“, beraten sich kurz und dann verkündet Detlef „Dee!“ Soost das Urteil: „Die Entwicklung ist sicherlich da, aber ihr braucht noch ’ne Zeit“, sagt er, „weitermachen, durchhalten, irgendwann sieht man sich wieder.“ War also nichts mit dem Gang an den „Recall-Tisch“ – das Möbel, das die Schleuse ist zur nächsten Casting-Runde; in Köln werden diese 60 Kandidaten nehmen.
Ein neuer Schwung Talente darf in den Saal schwappen, und Noah Sow trägt natürlich immer noch ihr T-Shirt mit dem Aufdruck „Hölle Alaaf“. Gut möglich, dass sie morgen mit dem Slogan „Casting-Hölle-Kölle“ aufläuft. „I Believe I Can Fly“, wird zum schätzungsweise 23. Mal geschmachtet, und diesmal sehen alle drei in der Jury aus, als ob sie das nicht glauben.
„Für mich selbst wäre solch ein Casting die Hölle“, hat Alex Christensen ins Presseinfo schreiben lassen. Das mag sein, Alex. Noch wahrer allerdings ist folgender Satz: Solch ein Casting ist die Hölle.
Casting-Daten: 9. 8. Hamburg, 17. 8. Frankfurt,21. 8. Stuttgart,31. 8. München
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