piwik no script img

Intelligenzrisiko Schule

Die heutige Schule erzeugt bei den Kindern eine Art Bulimie: Wissen fressen und kotzen. Gleichzeitig ist die Bildungsdebatte eine Katastrophe der Fantasielosigkeit

Die Diskussion um Expressabitur und Turboklassen wirkt, als wären wir ineinem Autosalon

Die Sachsen und Niedersachsen müssen diese Woche wieder zur Schule. In Hessen und im Saarland hat der Unterricht bereits begonnen. Aber in den meisten deutschen Schulen ist noch Ruh. Rechtzeitig zur Urlaubszeit gab ein Psychologe aus Erlangen eine Art Intelligenzwarnung: Im Urlaub könnte der IQ um 20 Prozent sinken, wenn man sein Zentralorgan, das Gehirn, nicht wie gewohnt beschäftige. 20 Prozent Einbuße – das sei exakt der Abstand zwischen Studenten und Bevölkerungsdurchschnitt.

Also lieber das Intelligenzrisiko Ferien vermeiden? Man antwortet einer Studie am besten mit einer anderen. In Kanada fanden Hirnforscher bei Schülern, dass deren Aktivität im Kopf nie so schwach ist, wie – man ahnt es – während des Unterrichts. Sobald es allerdings klingelt oder gongt, blinken die Synapsen. Das Gehirn arbeitet nicht wie eine Maschine und es hat auch keinen Vorstandsvorsitzenden. Sein Prinzip ist das der Selbstorganisation, die Zusammenarbeit unvollkommener Teile. Deshalb ist das Gehirn dauernd darauf aus, Konnexion zu machen. Gegen die Zudringlichkeiten von Perfektion und Belehrung wehrt es sich. Es ermüdet aus Mangel an Resonanz. Ja, Resonanz, das ist sein Metier.

Dazu passend noch eine Studie, unser Gehirn sucht ja immer nach dem, was passt. Sie kommt von Renate Valtin, Humboldt Universität Berlin. Sie fand heraus, dass auf dem Schulweg kaum noch „Nie mehr Schule“ gesummt oder gar „Hurra, hurra, die Schule brennt“ angestimmt wird. Die Kinder der so genannten Spaßgesellschaft gehen ganz gern zur Schule, aber nicht wegen des Unterrichts, sondern wegen der anderen Kinder und Jugendlichen. Die Schule ein großes Jugendzentrum? Heimliche Entschulung der Schule durch die Schüler selbst und kaum Widerstand vom Lehrpersonal?

Die Studie der Humboldt Uni macht das Schuldilemma deutlich. Schüler gehen widerspruchslos hin, stellen im Klassenraum ihre Körper ab, und ihre Fantasie geht spazieren. Sie bringen der Institution den Tribut, den sie verlangt, lernen, was abgefragt wird, und vergessen das meiste. In dieser Taktik sind sie wahre Artisten. Der Effekt, eine Art Bulimie. Fressen und Kotzen. Die Schule wird merkwürdig weltlos und bringt das Lernen selbst in Verruf.

Wo ist der Aufbruch, den alle fordern? Die Bildungsdebatte ist eine Katastrophe an Fantasiemangel. Unterrichtsausfall, Lehrermangel, Lehreralter . . . Ab und zu schreckt ein internationaler Vergleich, in dem Germany schlecht abschneidet. Und dann die Diskussion um Expressabitur und Turboklassen, als wären wir in einem Autosalon.

Nun gibt es gute Gründe, über eine verkürzte Schulzeit nachzudenken, wenn es denn darum geht, junge Leute früher tätig sein, sie also ran zu lassen. Darauf brennen ja die meisten. Aber Verkürzung als Kompression, um noch mehr zu stopfen und noch schneller zu vergessen? Kürzere Schul- und Studienzeiten, ja – wenn später die Arbeit mit Bildungs- und Ausbildungsphasen unterbrochen wird. Dadurch könnte eine andere Qualität von Zeit und Bildung entstehen. Schule bedeutet ihrem antiken Wortsinn nach genau dieses: Muße, Unterbrechung. Scholé hieß bei den Griechen „frei sein von Geschäften“. Unsere Schulen sollten Gymnasien zum geistigen Sport freier Menschen sein, Orte der Lebenskunst, Ateliers zur Selbstmodellierung. Kaum etwas sind sie weniger.

Muße ist paradoxe Zeit. Für sie gilt, wofür Rousseau fünf Wörter brauchte: „Zeit verlieren, heißt Zeit gewinnen.“ Im Gegensatz zum Antreiben, zur Panik, bei der wir Zeit gewinnen wollen und sie doch entschädigungslos loswerden. Dann gilt das Verdikt des Geschwindigkeitstheoretikers Virilio: „Wir kommen immer zu spät, auch wenn wir zu früh sind.“ Man verpasst sich selbst.

Die Konstruktionen der Zeit sind die Geheimgrammatik unseres Lebens. Bildung ist auch so eine Geheimgrammatik. Sie ist ein Selbstgespräch darüber, wer wir sind und was wir wollen. Das macht die Diskussion über die anstehende Bildungsreform so vertrackt: Es geht darum, Bilder zu entwickeln, wie wir uns im Ausgang der Industrieepoche ein gutes Leben vorstellen.

Peter Sloterdijk hat so ein Bild beim Beobachten seiner Tochter entwickelt. Er sieht, wie sie sich auf ihren nächsten Zustand freut. „Es ist, als ob sie so eine Art Grubenlampe auf dem Kopf trägt, die ihr den nächsten Abschnitt des Lebens auf eine ganz diskrete Weise anleuchtet. Sie sieht immer Licht am Ende des Tunnels, das Licht aus ihrem eigenen Projektor.“ Man möchte in diesem Bild weiter denken. Welches Drama, wenn die Grubenlampe ausgeblasen wird, weil sie angeblich zu schwach oder zu eigensinnig ist, oder wenn sie durch Überstrahlung ausgelöscht wird, weil nur noch der Oberbeleuchter am Set das Licht ein- und ausschaltet. Die Beobachtungen an seiner Tochter brachten Sloterdijk zu einer seiner Metaphern, die man nicht so leicht vergisst: „Lernen ist Vorfreude auf sich selbst.“

Was den Kindern am meisten fehlt ist diese Vorfreude. Das Ausmaß dieses Problems zeigt eine Studie der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung der Hamburger Universität. Kindern fehlen Eltern, die wirklich da sind. Immer mehr Kinder wachsen auf, als wären sie aus der Welt gefallen. Sie wirken wie Findelkinder in ihren Kinderzimmern, die man wegen Überfüllung an Dingen schließen müsste. Kinder in einer Prothesenwelt: Wohlstandsverwahrlosung. Jede fünfte Kinderseele sei krank, stellt die Hamburger Studie fest: Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, diffuse Ängste, Niedergeschlagenheit, ja, nicht mehr leben wollen.

Muße ist paradoxe Zeit. Rousseau drückt es in fünf Wörtern aus: „Zeit verlieren, heißt Zeit gewinnen.“

Derzeit werden überall Argumente für eine große Bildungsdebatte vorbereitet. Arbeitgeber wollen sie zu ihrem Spitzenthema machen und greifen bereits mit gar nicht so schlechten Argumenten den Beamtenstatus der Lehrer an. Zudem stehen die Ergebnisse neuer internationaler Leistungsvergleiche der Achtklässler ins Haus. Sie könnten den BSE-Faktor (Bildungs-Skandal-Erreger) liefern. Dann wird wieder deutsche Standorthypochondrie ausbrechen. Viele werden nach durchschlagender Medizin rufen. Wunderheiler werden sich sonntags zur Christiansen-Demokratie treffen und ihre Rezepte verkünden. Man sollte sich darauf vorbereiten und überlegen, was Parolen wie „Mehr Mut zur Erziehung“ und „Sich mehr Anstrengen“ entgegengehalten werden kann. Frau Schröder-Köpf hat bereits mit dem Vorschlag, Kinder früher ins Bett zu bringen und das Taschengeld knapp zu halten, das Niveau getestet. Es kann bestimmt unterboten werden.

Dem Dumpfpopulismus lässt sich was entgegensetzen. Es wird darum gehen, wie Schulen Orte werden, an denen zugleich Muße und Lust an der eigenen Leistungsfähigkeit entwickelt werden können. Dabei werden neue, ungewöhnliche Bündnisse geschlossen werden, auch mit der so genannten Wirtschaft.

Merkwürdig übrigens, dass die Bildungsdebatte im Programmentwurf der Grünen keinen prominenten Platz erhält – oder vielleicht gar nicht merkwürdig? REINHARD KAHL

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen