: Hamburg zum Beispiel
Ein Buch von Wolfgang Mönninghoff rekonstruiert die „Arisierung“ als Bedingung des Wirtschaftswunders ■ Von Roger Behrens
Es sei „kein wissenschaftliches Buch“, der Autor „kein Historiker, sondern Journalist“. „Geschichte muss nicht nur erforscht, sondern auch anschaulich erzählt werden.“ Der Hamburger Wolfgang Mönninghoff möchte sich mit diesen Hinweisen in seinem Buch wohl die eher beschämenden Debatten ersparen, die es etwa um die Thesen Daniel Goldhagens im Namen der Wissenschaft gegeben hat. Und: Nicht, dass der Journalismus per se die bessere Methode sei – in Fragen der nazideutschen Verbrechen erweist sich die journalistische Anschaulichkeit allerdings als eindringlichere Form, ja Didaktik, die sich bereits auf historische Quellenarbeit gründet.
In Mönninghoffs Veröffentlichung Enteignung der Juden geht es darum, über den Gründungsmythos der bundesrepublikanischen Verhältnisse aufzuklären. Das so genannte Wirtschaftswunder war keineswegs Neuanfang, keineswegs der hemdsärmelige Start in die Demokratie, sondern erweist sich als „großer weißer Fleck in der Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit“. – Der Autor entzaubert diese „Lebenslüge der Republik“ in seinem Buch, das jüngst im Europa Verlag erschien: „Angesichts einer in Deutschland zu vererbenden Summe von geschätzt zwei Billionen Mark allein zwischen 1997 und 2002 drängt sich die Frage nach den Quellen dieses Reichtums auf.“ Dieser speise sich aus der Enteignung jüdischen Besitzes während des Nationalsozialismus.
„Fest steht, dass der derzeitige Reichtum der Deutschen nicht allein auf ihrem Fleiß beruht, sondern auch auf ihrem Eifer, mit dem sie Juden – zunächst wirtschaftlich – vernichtet haben.“ Ab 1933 wurden Juden systematisch aus dem Wirtschafts- und Berufsleben entfernt; jüdische Geschäfte wurden, zunächst boykottiert, in den Ruin getrieben; antisemitischer „Volkszorn“ attackierte Kunden und Inhaber jüdischer Geschäfte, die dann – entweder geraubt oder unter Preis – in „arische Hände“ übergingen. Das Ziel ist bekannt: die völlige „Entjudung“ des Reiches.
Die ökonomische Vernichtung der Juden, die dem Massenmord vorausging, gründete im und schürte das Klischee vom reichen Juden. In dem Stereotyp von der jüdischen Bedrohung unterscheidet sich der Antisemitismus vom Rassismus. „Die Differenz findet ihren Ausdruck in der Vorstellung von Macht. In der antisemitischen Perspektive sind Juden Gottesmörder und Weltverschwörer; dazu sind sie reich und beherrschen die Medien: Es ist diese Macht, die – in der antisemitischen Wahrnehmung – gebrochen werden muss.“
Wie diese Macht durch die Enteignung jüdischen Besitzes gebrochen wurde, zeigt Mönninghoff an zahlreichen und detaillierten Schilderungen von „Arisierungsfällen“. Zum Beispiel Hamburg: Kaum ein Geschäft, ein Bankhaus, ein großes Hotel, ein Industriezweig, an dem sich nicht Spuren der Enteignung finden. Allein im Neuen Wall wurden über 40 Geschäfte, Firmen und Banken „arisiert“; die großen Warenhäuser in der Innenstadt, die in den letzten Jahren ihre Jubiläen feierten, verzichteten zumeist auf Hinweise darauf, wie die jetzige Geschäftsführung zu Reichtum kam. Auch dass in „arisierten“ Firmen jüdische Zwangsarbeiterinnen Akkord arbeiten mussten und jüdische Angestellte ins KZ kamen, wird in den Firmenchroniken gerne ausgespart.
Doch nicht nur der NS-Staat und das deutsche Großkapital bereicherte sich an den Juden; im Zuge der „Arisierung“ gab es regelrechte Schnäppchenjagden auf jüdisches Eigentum. Nachdem 1941 die Deportation Hamburger Juden begonnen hatte, wurde deren Hab und Gut versteigert. Schätzungsweise 100.000 Hamburger bereicherten sich an Möbeln, Hausrat, Wohnungen und schufen so die ökonomischen Grundlage für den angeblich so wunderlichen Neubeginn der deutschen Wirtschaft nach 1945.
Wolfgang Mönninghoff, Enteignung der Juden. Wunder der Wirtschaft – Erbe der Deutschen, Europa Verlag, Hamburg 2001, 304 S., 39,50 Mark
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