piwik no script img

„Alles, was ich sah, war die Olive meines Martinis“

„Das Redigieren, das ist ein delikater Moment. Wie redigiert man, ohne die Wahrheit zu verletzen?“

Das Gespräch führte ESTHER MUENCH

taz: Herr Terkel, Ihr eigentlicher Vorname ist Louis. Wie sind Sie zu dem Spitznamen „Studs“ gekommen?

Studs Terkel: Ich wünschte, es wäre das, wofür Sie es halten [stud= Zuchthengst, übertragen: Aufreißer]. Es gab eine Romantrilogie „Studs Lonigan“ von James T. Farrell, einem Autor aus Chicago. Ich las es, als ich zwanzig Jahre alt war. Mir gefiel das Buch so gut, dass man anfing, mich „Studs“ zu nennen. Es gab allerdings mal eine Situation, in der mein Name etwas Verwirrung anrichtete. Ich bekam einen Brief von einer Bibliothekarin aus dem Süden. Sie schrieb, wie schockiert sie war, als ein Mann nach einem „pornografischen Buch“ fragte. Es stellte sich heraus, dass es sich um mein Buch „Working“ handelte. Der Mensch fragte allerdings nach „Working Studs“ (Aufreißer bei der Arbeit) des Autors Terkel.

„Studs’ Place“ war auch der Name Ihrer Talkshow ...

Sehen Sie, mein Leben ist eine Aneinanderreihung von Zufällen. Als ich damals Jura an der Universität Chicago studierte – und ich hasste mein Studium –, lernte ich den Direktor des „Arbeiter-Theaters“ kennen. So wurde ich zunächst Schauspieler. Später spielte ich Gangster in Hörspielen ... das einzige Problem dabei war, dass man als Gangster zum Schluss immer umgebracht wurde. Und damit war ich dann auch meine Jobs los. Dann arbeitete ich als Discjockey, und in den Fünfzigern kam das Fernsehen, ein völlig neues Medium. Ich hatte meine eigene Talkshow, „Studs’ Place“. Ich wurde aber gefeuert, weil ich mich weigerte, meine linken Ansichten zurückzunehmen. Ich stand dann eine Weile auf der schwarzen Liste.

Ihre linken Überzeugungen haben Ihnen gelegentlich Ärger gemacht?

Ja, das stimmt. In der McCarthy-Ära hatte ich Petitionen für Preiskontrollen unterschrieben. Man glaubte, diese Sachen seien kommunistischen Ursprungs. Mir wurde geraten, das zurückzunehmen. „Du musst einfach bloß sagen, dass du es nicht so gemeint hast, dass du ein bisschen blöde warst“, hieß es, aber ich sagte: „Ich war nicht blöde. Ich habe genau gewusst, was ich tat, als ich meinen Namen unter die Petitionen setzte.“ Noch heute glauben viele, das sei Heldentum gewesen. Nein! Das war reines Ego. Meine Eitelkeit war verletzt. Ich konnte mich doch nicht vor diesen Kerlen als „blöde“ darstellen. Damit war die Sache mit der Fernsehshow gelaufen.

Später arbeitete ich dann für eine Radiosendung mit der berühmten Gospel-Sängerin Mahalia Jackson. Ich saß gerade an einem Skript für ihre Sendung, da kommt ein Kerl aus New York herein und will, dass ich einen Loyalitätsschwur leiste. Ich weigerte mich. „Sie müssen das aber unterschreiben“, sagt er. „Nein, ich muss nicht“, sage ich in einem Moment, in dem Mahalia Jackson gerade vorbeiläuft. Sie fragt: „Wirst du unterschreiben?“ Ich: „Natürlich nicht“, und sie sagt: „Dann an die Arbeit!“ Da sagt der Mann aus New York, „Verzeihung, Miss Jackson, aber Herr Terkel muss das unterschreiben.“ – „Hören Sie mal gut zu“, erwiderte Mahalia, „er muss überhaupt nichts machen, wenn er es nicht will. Wenn Sie ihn deshalb feuern wollen, dann können Sie sich gleich auch nach einer anderen Mahalia Jackson umschauen.“

Und was passierte dann?

Nichts passierte! Der Kerl verschwand und tauchte nie wieder auf. Und die Moral von der Geschichte? Während der McCarthy-Zeiten sagte niemand Nein – aber Mahalia sagte Nein! Es herrschte diese Feigheit. Die Schriftstellerin Lillian Hellman hat über diese Zeit ein Buch geschrieben, „Zeit der Schurken“. Es hätte besser „Zeit der Feiglinge“ geheißen.

Was das Ende meiner Fernsehshow betrifft, pflegte meine Frau zu sagen: „Du wärst ohnehin gefeuert worden! Du hättest auf Dauer nicht deinen Mund halten können!“ Und es liegt eine gewisse Ironie in dieser Geschichte. Weil ich auf der schwarzen Liste stand, kam ich in Berührung mit anderen Dingen und fand so auch den Weg zu Radio WFMT, wo ich 45 Jahre lang meine eigene Show hatte. Ich will damit nicht sagen, dass auf der schwarzen Liste zu stehen grundsätzlich karriereförderlich gewesen wäre ... aber in meinem Fall gereichte es mir nicht zum Nachteil.

„Wir haben in den USA kein Gestern. Wir leiden hier unter der Krankheit des nationalen Alzheimer.“

Sie arbeiten derzeit an einem neuen Buch, „Wird der Kreis sich schließen? Reflexionen über den Tod, die Wiedergeburt und den Hunger nach einem Glauben“, das im Herbst in den USA erscheinen wird. Wie kam es dazu?

Die Idee entstand in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Gore Vidal, den ich vor einigen Jahren in meiner Radioshow interviewte. Wie wir da so an der Bar des Ambassador East Hotels sitzen, da sagte er zu mir: „Hast du schon mal dran gedacht, ein Buch über den Tod zu schreiben?“ Ich dachte „Jesus“ ... alles, was ich sah, war die Olive meines Martinis. Ich antwortete: „Ich bin daran gewöhnt, über die Unsicherheiten des Lebens zu schreiben.“ In meinem Buch „Hard Times“ über die Depression: Wie ist es, ein Junge zu sein, der den Vater mit einem Werkzeugkasten auf der Schulter um half elf morgens nach Hause kommen sieht? Einen Vater, der für die nächsten zehn Jahre keine Arbeit mehr hat? Wie ist es, in „The Good War“ zu kämpfen – im Landungsboot vor der Normandieküste der Sohn einer Mutter zu sein? Ich fragte in „Working“, wie es ist, ein Lehrer, eine Hausfrau, ein Schweißer oder eine Nutte zu sein. Und in meinem Buch „Coming of Age“ ging es darum, wie es ist, alt zu werden. Das sind bestimmte Erfahrungen von Menschen. Aber, was ist die Erfahrung, die keiner von uns gemacht hat, aber jeder von uns gewiss machen wird? Es dauerte 25 Jahre, bis ich Gore Vidals Vorschlag annahm. Dann starb meine Frau. Ich hatte das Buch zwar schon vorher begonnen, aber ihr Tod versah es mit einer dringlichen Note ...

Wer sind die Menschen in Ihrem neuen Buch über den Tod?

Da gibt es Norma. Eine schwarze Frau, die eigentlich keine Frau ist. Sie ist ein Mann, ein Transvestit, der an Aids stirbt. Ihre Geschichte ist eine über das Sterben mit Würde. Es gibt eine junge, selbstbewusste Frau, eine Lesbe, mit Brustkrebs, kurz davor aufzugeben ... Als sie mit ihrer einen Brust so aufrecht ins Wartezimmer hereinkommt, sagt jemand: „Sie sollten wenigstens einen Brustersatz tragen oder nicht so daherlaufen!“ – „Zur Hölle mit meinem Gang“, sagt sie. „Das ist, was ich bin!“ Ich nenne sie den „einbrüstigen Krieger“. Oder die Geschichte der Mutter von Emmett Tills aus Chicago. Der Tod dieses kleinen schwarzen Jungen hat traurige Geschichte gemacht. Emmett wurde 1954 von zwei Weißen brutal umgebracht. Die Mutter erinnert sich, wie sie darauf bestand, ihren toten Sohn zu sehen. Als sie den fürchterlich geschundenen Körper ihres Sohnes sah, ließ sie das an den gekreuzigten Jesus Christus denken. „So sah Christus aus“, dachte sie. „Christus starb für unsere Sünden, und wofür ist Emmett gestorben?“ Das ist die Geschichte einer Kreuzigung ... oder wie jemand mir sagte, eine „Pieta in Worten“. In manchen Fällen habe ich mich an Leute erinnert, die ich für meine anderen Bücher interviewte. Zum Beispiel an Tommy Gates, den pensionierten Feuerwehrmann aus New York, dessen Interview am Ende meines Buches „Working“ steht. Tommy eröffnet mein neues Buch und erzählt von seinem Vater, den ein langes Darmkrebsleiden in ein Knochengerüst von 85 Pfund verwandelt hat. Eines Nachts, Tommy liegt neben ihm auf einem Klappbett, hört er den alten Mann tief seufzen, einatmen, dann Stille. „O.k., Vater ist tot. Ich sag’s der Familie morgen ...“ Dann aber plötzlich hört er ihn wieder atmen. „Hurensohn!“, ruft Harry. Im Gespräch mit mir sagt er: „Ich liebe meinen Alten, aber ich war sauer!“ Sehen Sie, das sind zutiefst menschliche Momente!

Fanden Sie es schwieriger, Menschen zu diesem Thema zu interviewen?

Im Gegenteil. Sie waren sogar noch offener. Die Menschen wollen darüber reden, wollen, dass man ihnen zuhört.

Inwiefern unterscheidet sich Ihr neues von Ihren anderen Büchern?

In keinem anderen meiner Bücher wird so viel über den Glauben geredet. Das ist ein wiederkehrendes Thema. Immer wieder taucht in den Geschichten der Satz auf: „Ich bin nicht religiös, aber spirituell.“ Man könnte das schnell mit New Age abtun, aber dann stellte ich fest, dass das, was sie meinen, ist: „Ich will an etwas glauben, aber nicht an etwas, das mit einer Institution in Verbindung steht.“ Einer Kirche, einer Synagoge oder Moschee, oder was auch immer.

Was sind Ihre Gedanken über den Tod?

„Ich zähle manchmal meine verstorbenen Freunde ... und die verdammte Liste wird immer länger“

Ich bin skeptisch und halte es im Allgemeinen eher mit Gertrude Stein, die sagte: „Es gibt kein Da, da!“ Ich bezeichne mich als Agnostiker, aber ein Agnostiker ist eigentlich ein feiger Atheist. Gleichzeitig bin ich auf die Leute, die glauben, neidisch ... Ich bin jetzt 89. Meine Frau und viele meiner Freunde sind nicht mehr. Manche Leute zählen Schafe, um einzuschlafen. Ich zähle manchmal meine verstorbenen Freunde ... und die verdammte Liste wird immer länger! Sehen Sie, ich habe junge Freunde. Sie sind wunderbar, aber sie kennen die Lieder nicht. Sie verstehen die Anspielungen nicht. Jeden Morgen lese ich die Todesanzeigen. Es ist wie in dem alten Knittelvers: „I wake up each morning and gather my wits / I pick up the paper and read the obits / If my name is not in it / I know I’m not dead / So I eat a good breakfast and go back to bed.“ (Jeden Morgen wach’ ich auf und sammle meine Sinne / Dann lese ich die Anzeigen, und schau, wer heute drin ist / Und ist mein Name nicht dabei / Weiß ich, ich bin nicht tot / Ich beiße in mein Frühstücksbrot und geh’ zurück ins Bett.) Ich habe noch zwei Bücher in Planung. Es mag sein, dass ich keines von beiden werde abschließen können, aber es ist die Reise, nicht das Ziel, was zählt und mich lebendig hält.

Im Zentrum Ihrer Arbeit stehen gewöhnliche Menschen. Sie sind der Mann, der Amerika interviewt. Was fasziniert Sie daran?

Mich interessieren die „gewöhnlichen Leute“ – ein Wort, das ich eigentlich nicht mag, weil es meist ganz ungewöhnliche Menschen sind ... Wenn ich Leute frage: „Wer baute die Pyramiden?“, ist die erste Reaktion: „Die Pharaonen.“ Aber die Pharaonen mussten keinen Finger rühren. Die Hände von Frau Pharao waren so perfekt manikürt wie die von Elizabeth Taylor als Kleopatra. Wer baute die Pyramiden also? Anonyme Menschen! Ich zitiere immer gerne aus einem Gedicht von Bertolt Brecht: „Wohin gingen sie am Abend, als die chinesische Mauer fertig war, die Maurer?“. Oder: „Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ Meine Arbeit ist die eines Goldsuchers, eines Gehirnchirurgen und eines Regisseurs. Ich höre von einer Person und beginne zu graben. Das Interview beginnt, und hervor kommt Erz, viel, viel Erz, dreißig engzeilige Seiten. Aber wie komme ich an das Gold? Ich siebe, bis ich die Hand voll Goldstaub habe. Das ist das Redigieren, ein delikater Moment, bei dem der Gehirnchirurg gefragt ist. Wie redigiert man, ohne die Wahrheit zu verletzen? Danach habe ich immer noch keine Goldkette. Ich muss die Teile zu einem Buch zusammenfügen, und hier kommt das Traurige – ich muss wie der Regisseur Dinge weglassen.

Hatten Sie bei den vielen Interviews, die Sie für Ihre Bücher führten, manchmal den Eindruck, dass Ihre Gesprächspartner zum allerersten Mal Erlebnisse mit jemandem teilten?

Oh ja, ganz gewiss! Für mein erstes Buch interviewte ich eine junge allein erziehende Mutter, die im Sozialwohnungsbau lebte. Die Kinder tanzten um uns herum und baten, die Stimme ihrer Mutter auf Tonband zu hören. Bedenken Sie, heute gehört ein Kassettenrekorder zu jedem Haushalt, aber als ich anfing, war das noch etwas ganz Neues. „Also gut“, sage ich und stelle das Gerät an. Die junge Frau hört ihre Stimme zum ersten Mal und sagt „Oh, mein Gott, ich wusste gar nicht, dass ich so fühle!“ Oh, Mann, das war wirklich was Großes! Das ist eine Revolution! Nicht nur für sie, sondern für mich – einfach großartig! Zu Beginn des Gesprächs, hatte ich ihr von meiner technischen Unbegabtheit erzählt, dass ich im Umgang mit dem Rekorder völlig schusselig bin.

Ich habe mit Technik nix am Hut. Ich habe keinen Computer, keine E-Mail. Die einzige Konzession, die ich mache, ist der Anrufbeantworter. Als ich für die Chicago Sun-Times arbeitete, passierte es mir einmal, dass ich den falschen Knopf drückte und dadurch nichts auf dem Band hatte. Bei den Leuten, die ich für meine Bücher interviewe, ist der Hinweis auf meine technische Schusseligkeit hilfreich. Es macht mich in ihren Augen menschlich. Ein Freund hat mir einmal vorgeworfen, ich würde das immer absichtlich sagen, aber ich bin wirklich ein Technikschussel!

Durch Ihre Bücher haben deutsche Leser viel über Amerika erfahren. Was, wenn sich das sagen lässt, ist das Amerikanische an Ihren Protagonisten?

„Ich wurde gefeuert, weil ich mich weigerte, meine linken Ansichten zurückzunehmen“

Das ist schwer zu sagen. Ich denke, das ist nicht nur eine einzelne Eigenschaft. Es gibt hier keine Faustregel. Wir sind ein multikulturelles Land. Mehr und mehr Immigranten kommen. Das ist gut, weil es die Kultur bereichert. Ich habe den Eindruck, dass die Welt heute ohnehin mehr und mehr homogenisiert wird. Wenn ich vor fünfzig Jahren unterwegs war, meine Bücher vorzustellen, da konnte man, wenn man aus dem Zug stieg, noch klar erkennen, ob man in Pittsburgh, Chicago oder Cleveland war. Es gab bestimmte Orientierungspunkte. Und was sieht man heute, wenn man aus dem Flugzeug steigt? Immer das gleiche: Mariott, Pizza Hut, McDonald’s. Hier ist eine Geschichte: Auf Lesereisen wird einem nach einer Weile ein bisschen nebelig. Ich bin also irgendwo in einem Motel und rufe die Zentrale an: „Könnten Sie mich bitte um sechs Uhr wecken? Ich muss um acht nach Cleveland fliegen.“ Es folgt eine lange Stille. „Mein Herr, Sie sind in Cleveland.“ Amerika wird oft als das „Land der tausend Möglichkeiten“ beschrieben. Man kann es vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen, wenn man nur hart genug arbeitet. Das ist der so genannte amerikanische Traum. Das ist ganz großer Mist! Wir haben doch die Depression erlebt. Da konntest du so hart arbeiten, wie du wolltest, und wurdest gefeuert. Ähnliches passiert doch auch heute. Das Fürchterliche daran ist, dass die betroffenen Leute sich selbst die Schuld an ihrem Schicksal geben statt dem verdammten System. Das Wort „Arbeiterklasse“ wird heute in Amerika nicht mehr in den Mund genommen. Stattdessen wird der Begriff „Mittelklasse“ auf alle angewendet. Jeder ist Mittelklasse.

Sie haben unter anderem über die große Depression, über Rassenunterschiede, den Krieg, die Arbeitswelt geschrieben. Welche Probleme sehen Sie heute?

Unsere Krankheit habe ich einmal den „nationalen Alzheimer“ genannt. Wir haben kein Gestern. Schon damals, als ich vor 25 Jahren an meinem Buch über die große Depression (Anfang der Dreißigerjahre) arbeitete, hatten viele der jungen Leute noch nie etwas von dieser Zeit gehört. Man hat ihnen nichts erzählt, abgesehen von den Zurechtweisungen: „Du weißt gar nicht, wie gut es dir geht.“ Erkrankt an „nationalem Alzheimer“, haben wir völlig vergessen, dass der Staat eine sehr wichtige Rolle spielen kann, aber wir hatten uns für den freien Markt, den neuen Gott, entschieden. Aber der freie Markt fiel 1929 auf den Arsch. Gleiches gilt für die Geschichte der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften. Da hatte ich einmal ein Erlebnis mit einem jungen Paar. Ich warte auf den Bus hier an der Straße. Da sind diese beiden jungen Leute, die mich beharrlich ignorieren, obwohl wir schon seit Jahren denselben Bus nehmen. Sehen Sie, ich habe ein Ego. Diese Ignoranz konnte ich einfach nicht zulassen. Er, ein schicker junger Mann im teuren Anzug, in der Hand natürlich das Wall Street Journal. Sie, ein wirklich hübsches Geschöpf, trägt Designerklamotten und eine teure Handtasche. Sie sehen geflissentlich über mich hinweg. Also sag ich: „Tag der Arbeit ist bald!“ Ich wusste, dass ich sie damit kriegen würde. Die beiden blicken abfällig. Ich wieder: „Tag der Arbeit ist bald. Wir sind immer mit wehenden Flaggen den Michigan Boulevard hinuntermarschiert! Es lebe die Solidarität! Auf welcher Seite sind Sie denn?“ Er wendet sich zu mir um und sagt: „Wir verabscheuen Gewerkschaften.“ Ich dachte: „Oh, Mann, hier hab ich ein Täubchen ...“ Ich sehe den Moment gekommen, sie in die Zange zu nehmen. „Sagen Sie, wie viele Stunden arbeiten Sie?“ Er antwortet unbewusst: „Acht.“ Ich trete einen Schritt an ihn heran und sage: „Wie kommt es, dass Sie nicht achtzehn Stunden täglich arbeiten?“ Er überlegt, wie er flüchten kann, aber ich habe ihn gegen den Briefkasten gedrückt ... er kann nicht weg. „Wissen Sie, warum Sie acht und nicht achtzehn Stunden wie Ihre Großeltern arbeiten? Weil 1886 ein paar Jungs für Sie aufgehängt wurden, als sie hier in Chicago auf dem Heumarktplatz für den Achtstundentag gekämpft haben!“ Sie ließ ihre Handtasche fallen. Ich hebe sie höflich auf und gebe sie ihr zurück. „Und in den Dreißigern haben sich Männer und Frauen die Köpfe für euch einschlagen lassen.“ Da haben Sie’s. Sie haben nichts darüber gelernt, wie der Achtstundentag oder die Sozialhilfe entstanden sind. Wir müssen unsere Geschichte wiederfinden. Wir müssen den Sinn für die Vergangenheit wiedergewinnen. Was war gut, was war schlecht? Man muss doch etwas haben, worauf man die Gegenwart und die Zukunft aufbauen kann. Ein anderes großes Problem ist die Altersdiskriminierung. Dabei haben wir es mit einem der verrücktesten Paradoxe unserer Zeit zu tun: Dank Medizin und Wissenschaft leben wir heute länger. Gleichzeitig ist man aber in der Berufswelt, selbst im mittleren Management, mit 50 weg vom Fenster. Das ist doch irrsinnig! Es gibt ein spanisches Sprichwort: „La esperanza muere a ultimo – Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Ich habe gemischte Gefühle, was die Zukunft und politische Entwicklungen angeht. Sehen Sie, alles ist politisch. Die Luft, die wir atmen, ist politisch. Vielleicht passieren ja noch großartige Dinge. Manche sagen, wir stünden an der Schwelle eines großen positiven Wandels – ich will das erst einmal sehen. Gleichzeitig gibt es Ermutigendes, wie die Proteste in Seattle gegen die Welthandelsorganisation, die Proteste in Quebec, Göteborg oder jüngst in Genua. Leider wird in den Medien immer nur von dem einen, gewalttätigen Prozent der Demonstranten berichtet. 99 Prozent sind friedlich. Sie zeigen doch, dass es noch so etwas gibt, wie wir es von den Sechzigern kennen. Sie sehen: Ich schwanke zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Was sind die wichtigsten Dinge, die Sie über Menschen und das Leben gelernt haben und weitergeben würden?

Das Buch und die Straße. Was ich damit meine ist, neben dem Lesen die Straße, in der man lebt, nicht zu vergessen. Beides ist wichtig, das Buch und die Straße. Es ist wichtig, sich der Menschen draußen bewusst zu bleiben und sich gelegentlich vorzustellen, wie es wäre, diese andere Person zu sein. Das ist, worum es geht. Stets Autorität zu hinterfragen ist ebenso wichtig. Egal, wer diese Autorität ist, und selbst wenn es sich um eine linke Autorität handeln sollte – immer muss man die offizielle Wahrheit in Frage stellen. Wichtig ist auch, sich die Neugier zu bewahren. Neugierig zu bleiben auf das, was in der Welt passiert, und warum es passiert. Ich habe schon meine Grabinschrift: „Curiosity did not kill this cat“ [„Neugier hat diese Katze nicht getötet“; Umkehrung der englischen Volksweisheit „Curiosity kills the cat“/ „Neugier tötet die Katze.“)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen